„Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“

Rede von BKin Merkel bei 18. RNE-Konferenz

Tempodrom in Berlin – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Die Bundesregierung entwickelt die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiter. Alle sind eingeladen, sich mit ihren Ideen zu beteiligen. Wichtige Anregungen gibt ein Gutachten internationaler Expertinnen und Experten – auch im Hinblick auf die für 2020 vorgesehene umfassende Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Die Gutachter haben die deutsche Nachhaltigkeitspolitik geprüft und wie in den Jahren 2009 und 2013 Empfehlungen in einem sogenannten „Peer Review“ erarbeitet. Das Gutachten wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel am 04.06.2018 bei der 18. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 04.06.2018 im Berliner Tempodrom übergeben. Die Bundeskanzlerin hielt aus diesem Anlass eine Rede. Solarify dokumentiert:

Sehr geehrte Helen Clark,
sehr geehrte Frau Thieme,
sehr geehrte Ratsmitglieder,
meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie in bisher nie gekannter Zahl hierher gekommen sind und  damit eine breite Unterstützung für das Gesamtanliegen geben,

„wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“, das fragen die Expertinnen und Experten im Peer  Review, also in ihrem Gutachten zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Sie ergänzen zwar, es sei  „noch viel zu tun, um einen erfolgreichen deutschen Weg hin zu Nachhaltigkeit zu gestalten“. Doch  ebenso klar ist, dass sie meinen, dass unsere Voraussetzungen dafür gut sind. Nachhaltigkeit hat  ihren Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefunden. Immer mehr Menschen stellen sich der  Frage in der gesamten Breite, wie sie nachhaltig arbeiten können, wie sie nachhaltig konsumieren  können. Und immer mehr Bürgerinnen und Bürger fordern auch Nachhaltigkeit von der Politik ein. Zu  diesem Bewusstseinswandel hat auch der Nachhaltigkeitsrat beigetragen. Und deswegen möchte ich  Ihnen ganz herzlich für Ihre Arbeit danke sagen.

„Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“ – diese Frage aus dem Gutachten zur Deutschen  Nachhaltigkeitsstrategie drückt auch aus, wie hoch die Erwartungen der Welt an uns sind. Helen  Clark hat mit einer Expertengruppe dankenswerterweise den Peer Review erarbeitet. Es ist schön zu  hören, dass unsere Strategie weltweit geschätzt wird. Also ist das Gutachten durchaus Bestätigung,  dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber ich sage ausdrücklich – Frau Thieme hat es ja in ihrer  höflichen Art auch gesagt –: Es geht nun auch darum, den Weg konsequent weiterzugehen. Deshalb  werden wir uns – das darf ich versprechen – mit den Empfehlungen intensiv auseinandersetzen. Schon  morgen wird der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung unter Leitung des  Kanzleramtsministers Helge Braun gemeinsam mit Frau Clark und weiteren Peers über das Gutachten  intensiv diskutieren. Deshalb nochmals herzlichen Dank, liebe Frau Clark, liebe Helen, dass Sie  sich dieser Mühe unterzogen haben. Wir werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass das  nicht nur Papier bleibt.

Sie wissen, dass 2015 ein entscheidendes Jahr für die globale Nachhaltigkeitspolitik war. Es wurden  die Agenda 2030 und zum ersten Mal Ziele für die ganze Welt verabschiedet. 17 Nachhaltigkeitsziele  hat die Weltgemeinschaft beschlossen. Alle Staaten haben sich zur gemeinsamen Verantwortung  bekannt, rund um den Globus für gute Lebensperspektiven zu sorgen – gerade auch mit Blick auf die  jüngere Generation.

Nur 12 Jahre bis 2030

2030 – das klingt einerseits weit weg, aber es sind nur noch zwölf Jahre bis zum Zieldatum. Vor  zwölf Jahren habe ich zum ersten Mal in meiner Rede vor einer Jahreskonferenz des Rates darüber  gesprochen, dass wir noch immer von der Substanz leben. Das, so muss man konstatieren, hat sich bis  heute nicht entscheidend geändert, obwohl es – das will ich nicht verkennen – Verbesserungen gibt.  Doch wir müssen den Gedanken der Nachhaltigkeit noch konsequenter zum Maßstab des  Regierungshandelns machen, und zwar in allen Politikfeldern. Darauf hat sich auch die neue  Bundesregierung im Grundsatz verständigt. In diesem Sinne wollen wir die Deutsche  Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln.

Deutschland wird sich auch international weiter für Nachhaltigkeit einsetzen. Das ist notwendiger  denn je, weil wir ja auch sehen, dass internationale Vereinbarungen zum Teil infrage gestellt  werden, dass die Einsicht, globale Herausforderungen können nur global gelöst werden, unter Druck  gerät und dass wir durch den Austritt der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Pariser Abkommen  einen Rückschlag erlitten haben. Man hat manchmal den Eindruck, dass die globale Ordnung ein wenig  auseinanderdriftet und das nationale Eigeninteresse überwiegt oder an Bedeutung gewinnt. Deshalb  möchte ich António Guterres zitieren, der als UN-Generalsekretär gesagt hat: „Der beste Weg,  Konflikte zu vermeiden und Frieden zu sichern, ist nachhaltige und integrative Entwicklung.“ In diesem Zusammenhang will ich nochmals daran erinnern, dass die Vereinten Nationen mit Blick auf  die Schrecken des Zweiten Weltkriegs gegründet wurden. Die Staatengemeinschaft leitete die  Einsicht, dass multilaterales Handeln notwendig ist. Deshalb gestatten Sie mir – weil es auch um  das Fundament für unsere deutsche Arbeit geht –, an dieser Stelle aus aktuellem Anlass einige Worte  zu Europa zu sagen, da es von entscheidender Bedeutung ist, dass sich Deutschland in ein Europa als  globalen Akteur einbringt.

Wir alle sehen, dass sich die Welt neu ordnet und dass diese Entwicklung von zwei Strängen gespeist  wird. Der eine hat mit der Verarbeitung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu tun, des  Nationalsozialismus und der Schrecken, die Deutschland über die Welt gebracht hat. In diesem  Zusammenhang sind in der Nachkriegszeit unglaubliche Leistungen vollbracht worden: die Gründung der  Vereinten Nationen, die Verabschiedung der Charta der Menschenrechte und im Grunde auch die  Gründung der Europäischen Union. Und wir spüren alle: Ein Menschenleben später muss sich die Kraft  dieser Institutionen wieder völlig neu beweisen.

Wir sehen auch, dass sich 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs die Ordnung der Bipolarität zu  einer multipolaren Welt mit der Supermacht USA und einem dynamisch wachsenden China entwickelt hat.  In dieser Welt muss Europa, in dem Deutschland fest eingebettet ist, seine Rolle neu finden.  Zahlreiche Herausforderungen sind ja globaler Natur: Terrorismus, Klimawandel, digitaler Wandel,  globaler Handel, Migration. Die Dimension dieser Herausforderungen macht heute auch in Deutschland  vielen Menschen Angst. Die Angst, dass man diesen Herausforderungen vielleicht nicht gerecht werden  kann, führt dazu, dass einfache Lösungen plötzlich als richtige Lösungen erscheinen. Einfache  Lösungen scheinen der Rückzug ins Nationale, Abschottung und Protektionismus zu sein. Wer dies  verhindern will, muss eben auch eine überzeugende europäische Antwort geben.

Europäische Kraftanstrengung nötig

Es bedarf wirklich einer Kraftanstrengung, einer europäischen Kraftanstrengung, um die Europäische  Union in der globalen Ordnung des 21. Jahrhunderts zu verankern und wieder ein umfassendes  Sicherheitsversprechen zu geben. Die Europäische Union war immer ein Wohlstandsversprechen und ein  Friedensversprechen. Dieses umfassende Sicherheitsversprechen muss neu geschaffen werden. Deshalb  müssen wir Mut aufbringen, wir müssen wirtschaftliche Dynamik entfalten und offen sein für  Innovationen, wir müssen im Sinne der Nachhaltigkeit neu denken – Europa muss hierbei ein Beispiel  geben –, wir müssen auf solide Finanzen setzen. Wir brauchen Institutionen in der Europäischen  Union, die unsere Vorstellungen auch global umsetzen können. Europa kann das schaffen, aber nur,  wenn es seine Interessen in der Welt auch wirklich geschlossen und entschlossen zu Gehör bringt.  Und dann muss man einfach sagen: Wenn Europa ein globaler Akteur werden möchte, dann muss sich  Europa auch wie ein globaler Akteur verhalten. Das heißt, dass sowohl die Nationalstaaten dazu  bereit sein und den europäischen Institutionen dazu die Möglichkeit geben müssen als auch die  europäischen Institutionen handlungsfähig sein müssen.

Was meine ich mit einem „umfassenden Sicherheitsversprechen“? Das betrifft erstens eine gemeinsame  Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, zweitens eine gemeinsame Entwicklungs-, Migrations-  und Asylpolitik, drittens eine gemeinsame Wissenschafts-, Wirtschafts- und Währungsunion, viertens  eine gemeinsame Union der Bildung, der kulturellen Vielfalt und der Bewahrung der Schöpfung und  fünftens eine Europäische Union, die handlungsfähiger als heute ist.

Die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist mir sehr wichtig, weil wir unsere  – auch die deutschen – Interessen nur dann wirklich vertreten können, wenn wir als Europäer  gemeinschaftlich auftreten. Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir unsere nichtständigen Sitze –  Deutschland wird in dieser Woche hoffentlich auch wieder einen im UN-Sicherheitsrat bekommen – in  Zukunft als europäische Sitze wahrnehmen, dass wir gemeinsam agieren, dass wir innerhalb der  Europäischen Union einen aus weniger Mitgliedern bestehenden Europäischen Sicherheitsrat schaffen,  in dem die Mitgliedschaften rotieren und die Mitgliedstaaten schneller agieren können, auch was  Empfehlungen an den UN-Sicherheitsrat anbelangt, sodass wir ein kohärentes europäisches Auftreten  haben, dass wir ein Europäisches Weißbuch über Sicherheitspolitik und Sicherheitsherausforderungen  haben, dass wir also die Herausforderungen gemeinsam definieren, dass wir im Bereich der  Verteidigung und vor allen Dingen auch im Bereich der Entwicklungspolitik zusammenarbeiten.

Heute machen viele von uns ihre eigenen Sachen, die Europäische Union macht ihre. Aber eine  konsistente Strategie, bei der die Empfängerländer auch wirklich diejenigen sind, die davon  profitieren, und die nicht mit übermäßig viel Arbeit mit 28 Mitgliedstaaten verbunden ist – das  muss unser Ziel sein. Das schließt auch eine Koordinierung der Arbeit mit Blick auf terroristische  Herausforderungen, organisierte Kriminalität und illegale Migration mit ein.

Marshallplan für Afrika

Damit bin ich bei einem großen Punkt, der, glaube ich, im Augenblick die größte Gefahr für die  Zukunft der Europäischen Union ist, nämlich bei der Frage: Wie reagieren wir auf Migration und  illegale Migration? Wie schaffen wir ein Asylsystem und wie schaffen wir eine Entwicklungsagenda,  die wirklich dem Ziel des Wohlstands für alle und zu Nachhaltigkeit nicht nur bei uns führt?  Hierfür brauchen wir auch ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Wir brauchen eine europäische  Grenzpolizei. Wir brauchen ein System der flexiblen Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Und  wir brauchen – das ist für diesen Kreis hier von besonderer Wichtigkeit – eine konsequente  Bekämpfung von Fluchtursachen mithilfe eines neuen Pakts mit Afrika, eines Marshallplans mit  Afrika. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner verstanden, dass dauerhafte Sicherheit und  Stabilität in Europa nur durch Entwicklung und Wohlstand möglich sind. Genau diese Erfahrung müssen  wir auf den afrikanischen Kontinent übertragen, um dort Entwicklungsperspektiven zu eröffnen, denn  nur das wird den Migrationsdruck der vielen jungen Menschen mindern. Darin sehe ich eine der großen  Herausforderungen für Europa. Und wir brauchen auch einen vernetzten Ansatz von Entwicklungs-,  Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Die Soziale Marktwirtschaft – und damit das Wohlstandsversprechen – ist im 21. Jahrhundert unter  Druck geraten. Viele Menschen glauben an dieses Wohlstandsversprechen nicht mehr. Die  Digitalisierung ist eine der großen Herausforderungen. Deshalb schlage ich vor, dass wir unsere  Forschungsanstrengungen konsequent verstärken, unsere Forschungsausgaben auf drei Prozent des  Bruttoinlandsprodukts erhöhen und damit in die Zukunft investieren, dass wir in Europa gemeinsame  Netzwerke exzellenter Lehr- und Forschungseinrichtungen aufbauen, dass wir uns um die  Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz und der verschiedenen Bereiche der Digitalisierung  kümmern, aber in einer ethisch verantwortlichen Art und Weise, und dass wir unsere Wirtschafts- und  Währungsunion weiterentwickeln, ganz besonders die Eurozone.

Dazu bedarf es meiner Meinung nach innerhalb Europas einer größeren Unabhängigkeit vom  Internationalen Währungsfonds. Wir sollten unseren eigenen Europäischen Währungsfonds haben, mit  dem wir für alle Krisenfälle Vorsorge treffen. Und wir müssen uns bemühen, dass die Konvergenz der  wirtschaftlichen Stärke und der Lebenssituation innerhalb der Eurozone wächst, denn eine gemeinsame  Währung mit völlig unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten und Wohlstandssituationen in den  einzelnen Mitgliedsländern ist nicht gut. Deshalb schlage ich ein Investitionsbudget vor, mit dem  man diejenigen stärkt, die heute zwar noch schwächer sind, aber auch exzellent sein wollen. Und wir  müssen uns natürlich für multilaterale Handelsabkommen einsetzen, die Welthandelsorganisation  stärken – wir können und dürfen nicht alle internationale Organisationen für handlungsunfähig  erklären – und in Ergänzung dazu auch faire bilaterale Handelsabkommen schließen.

Wir brauchen eine gemeinsame Union der Bildung, der kulturellen Vielfalt und der Bewahrung der  Schöpfung. Ich glaube, ein europäisches Jugendwerk könnte uns helfen – wir haben gute Erfahrungen  mit dem deutsch-französischen Jugendwerk –, diese Themen jungen Menschen nahezubringen. Wir  brauchen eine Ausweitung der Austauschprogramme – nicht nur für Studenten, sondern auch für die,  die in der Berufsausbildung sind. Wir brauchen gemeinsame Berufsabschlüsse, nicht nur die  Bologna-Abschlüsse für die Studierenden, sondern auch für die neuen Berufe. Wir müssen uns in  Europa damit auseinandersetzen: Wo gelingt Integration am besten, wie können wir uns vergleichen? Wir müssen gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entschlossen und gemeinsam vorgehen.  Europa muss Vorreiter bei der Umsetzung des Pariser Abkommens und mit Blick auf die Ziele der  Agenda 2030 sein. Das heißt also, wir brauchen eine handlungsstärkere, auch handlungsschnellere  Europäische Union, wobei ich glaube, dass wir eine Verkleinerung der Kommission nicht zum Tabu  erklären dürfen, sondern auch sagen müssen: Dann kann auch ein großes Land mal keinen Kommissar  stellen. Da können wir Länder, die weiter voran sind – ich nenne für den digitalen Bereich die  baltischen Länder – auch einmal zu Lead-Ländern erklären und dürfen nicht immer nur glauben, wir  selber könnten es am besten. Da könnten wir die Arbeit eines Europäischen Parlaments auch mal auf  einen Standort konzentrieren und dann auch konzentriert arbeiten und im Gegenzug auch immer wieder  in den Ländern tagen, die gerade die Präsidentschaft haben.

Europa am Scheideweg

Ich habe das hier an dieser Stelle gesagt, weil im Augenblick Diskussionen im Gange sind und ich  das Gefühl habe, dass Europa am Scheideweg steht. Wenn wir stehen bleiben, werden wir in den großen  globalen Strukturen zerrieben. Oder wir entscheiden uns, in einer politischen Einheit ganz  besonderer Art – das wird Europa immer bleiben – unsere gemeinsamen Interessen, Werte und  Überzeugungen im globalen Alltag konsequent und im Sinne von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und  Demokratie durchzusetzen. Ich glaube, dass Europa Letzteres wirklich schaffen kann, dass es  Sicherheit in umfassendem Sinne gewährleisten kann, nicht nur heute, sondern auch morgen.

Wir in Europa können ein Beispiel multilateraler Zusammenarbeit sein. Wir sind schon 28, bald nur  noch 27, aber mit den Staaten des westlichen Balkans eines Tages über 30. Wenn wir das aber nicht  hinbekommen, wenn wir zerfallen, dann werden wir schwerlich eine überzeugende Stimme in der Welt  sein. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit eigenem Beispiel gut vorangehen, um anderen zu sagen:  Das globale Zusammenleben ist kein Nullsummenspiel, sondern kann eine Win-win-Situation für alle  sein.

Genau das ist auch der Grund, weshalb Deutschland und Europa internationale Organisationen wie zum  Beispiel die Welthandelsorganisation, die UN-Programme zur Entwicklung, Umwelt und Welternährung  unterstützen. Deshalb wollen wir uns in die Umsetzung der Agenda 2030 einbringen. Wir wollen nicht  nur hehre Ziele bekräftigen, sondern die 17 Ziele der Agenda auch tatsächlich erreichen. Deshalb  engagieren wir uns auch im Hochrangigen Politischen Forum der Vereinten Nationen zur Umsetzung der  Agenda. Wir sind dabei in guter Gesellschaft. Wir sind bereits 112 Staaten, die über ihre Art der  Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategien berichtet haben – darunter immerhin 24 der 28  EU-Mitgliedstaaten.

Ich will Ihnen ein Beispiel für eine konkrete Umsetzung nennen, die wir ins Auge gefasst haben. Der  Präsident von Ghana, Nana Akufo-Addo, die Ministerpräsidentin von Norwegen, Erna Solberg, und ich  haben den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation gebeten, bis Mitte Oktober einen globalen  Aktionsplan zur Umsetzung der Gesundheitsziele der Agenda 2030 zu erstellen. Wir brauchen  Zwischenziele, um daran ablesen zu können, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und wir brauchen ein  koordiniertes Vorgehen.

Gesundheit und Wohlergehen – das ist das dritte Nachhaltigkeitsziel. Keine Armut und kein Hunger –  das sind die ersten beiden Ziele. Die Agenda 2030 wird vor allem von den schwächsten Menschen der  Welt als eine Agenda gesehen, die neue Perspektiven schafft. Sie ist deshalb auch von zentraler  Bedeutung für die von mir bereits erwähnte Entwicklungszusammenarbeit. Das Entwicklungsprogramm der  Uno, UNDP, wurde vor Achim Steiner von Helen Clark geleitet. Das UNDP ist bei den Ländern  unabhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand als Partner gefragt. Anfang Mai haben sich die  Mitgliedstaaten auf eine Reform geeinigt. Deutschland hat sich intensiv für diese Reform  eingesetzt. Ich darf den ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer hervorheben, der als  Co-Vorsitzender eines Beratungsteams wichtige Ideen in diese Reform eingebracht hat. Unter anderem  sollen die Länderkoordinatoren gestärkt werden und die Finanzierung langfristiger erfolgen. Ich  glaube, das ist richtig.

Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern mitdenken

Nachhaltigkeit braucht das Zusammenspiel aller und lässt sich nun wirklich nicht im Alleingang  umsetzen. Deshalb betont das Ziel 17 der Agenda ja ganz ausdrücklich die Bedeutung von  Partnerschaften zur Erreichung der Ziele. Wir haben das letztes Jahr während der  G20-Präsidentschaft und beim Gipfel in Hamburg aufzugreifen versucht und einen sogenannten  „Voluntary Peer Learning Mechanism“ eingeführt. Ich freue mich, dass die argentinische  Präsidentschaft in diesem Jahr die Nutzung des Erfahrungsschatzes zur Umsetzung der Agenda 2030  fortsetzt.

Einen umfassenden strategischen Rahmen zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele brauchen wir auch auf  EU-Ebene. Wir sind gerade in der Europäischen Nachhaltigkeitswoche, die jedes Jahr stattfindet. Sie  dauert noch bis morgen und umfasst mehr als 5.400 Initiativen in insgesamt 33 Ländern – allein in  Deutschland über 2.000 Aktionen. Das ist eine bemerkenswerte Bilanz der Zivilgesellschaft. Ob  Handysammelaktionen, Kleidertauschbörsen oder Insektenschutz – es mangelt nicht an spannenden  Ideen. Wir haben diese Aktionswoche gemeinsam mit Frankreich und Österreich entwickelt. Ich möchte  mich bei beiden Ländern für die Zusammenarbeit bedanken.

Wir haben in Deutschland Anfang 2017 eine neue umfassende Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen. Es  kommt darauf an, Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern mitzudenken und die verschiedensten  Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen. Denn so, wie sich zum Beispiel Umweltschutz,  Wirtschaftswachstum und soziale Sicherheit gegenseitig bedingen, so sind auch die 17  Nachhaltigkeitsziele als Einheit zu sehen. Deshalb müssen wir auch jeden technologischen  Fortschritt dahingehend überprüfen, ob er im Sinne von Nachhaltigkeit auch tatsächlich Mehrwert mit  sich bringt. Industrie, Innovation und Infrastruktur – die drei „I“ – bilden deshalb auch das  neunte Ziel der Agenda 2030.

In diesem Zusammenhang kann der digitale Fortschritt nachhaltige Entwicklung voranbringen, weil wir  effizienter wirtschaften können, Ressourcen sparen und schonen können. Von der Telemedizin zum  Beispiel können ländliche Regionen profitieren, vernetzte Mobilität und mobiles Arbeiten können das  Verkehrsaufkommen und damit Umweltbelastungen verringern. Auch Künstliche Intelligenz kann in der  Wertschöpfung neue nachhaltige Möglichkeiten eröffnen. In Deutschland haben wir mit unserem hohen  Industrieanteil und hohen Forschungsniveau im Grunde eine gute Ausgangsbasis. Deshalb möchten wir  in Zukunft auch auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz „Made in Germany“ als ein  Qualitätsmerkmal im Sinne der Nachhaltigkeit etablieren.

Ich erwähne Qualität in dem Zusammenhang, dass auch digitaler Fortschritt nicht nur eine Frage der  technischen Machbarkeit ist, sondern im Sinne von Nachhaltigkeit wünschenswert, wenn er auch  ethisch verantwortlich vorangetrieben wird. Die rechtlich-ethischen Fragen, die sich stellen,  müssen wir vernünftig beantworten. Deshalb haben wir in der neuen Koalitionsvereinbarung die  Einsetzung einer Daten-Ethikkommission vorgesehen. Auch wenn das vordergründig vielleicht kein  Nachhaltigkeitsziel betrifft, geht es im Grunde doch auch um Nachhaltigkeit. Dabei wünsche ich mir,  dass wir den digitalen Wandel nicht als Bedrohung empfinden, sondern neugierig auf Innovationen  bleiben und sie als Bereicherung verstehen – in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer  Hinsicht gleichermaßen.

Viel zu lange waren Innovation und Wachstum mit einem steigenden Ressourcenverbrauch und mit  zunehmenden Schadstoffemissionen verbunden. Das können und dürfen wir uns nicht länger leisten.  Dabei müssen die Industrieländer mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sehen ja auch, dass  Entwicklungsländer bestimmte technologische Stufen gleich überspringen können. Beispielsweise kann  die Energieversorgung in vielen afrikanischen Ländern mit Solarenergie erfolgen und nicht mit  Kohlekraftwerken. In der Telekommunikation nutzt man statt eines Festnetzanschlusses das  Mobiltelefon oder Smartphone. Das heißt, es geht nicht nur um althergebrachte Technologien, die wir  exportieren, sondern wir müssen die modernsten Technologien in die Entwicklungspartnerschaft  einbringen.

Ziel globaler Treibhausgasneutralität

Die sicherlich größte Herausforderung, vor der wir im Zusammenhang mit den Entwicklungszielen  stehen, ist das Ziel der globalen Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte dieses  Jahrhunderts. Natürlich verursachen wir in den Industriestaaten nur einen Teil der weltweiten  Emissionen, aber wir sind die technologisch Führenden und müssen deshalb mit gutem Beispiel  vorangehen. Den wirtschaftlich stärksten Staaten kommt eine besonders große Bedeutung zu, auch wenn  wir wissen, dass wir alle nur gemeinsam das Ziel erreichen können.

Deshalb will ich ganz offen darüber sprechen, dass wir uns in den intensiven Verhandlungen über  eine neue Bundesregierung – da hatten wir zwei Runden; Frau Thieme hat schon gesagt, dass es etwas  lange gedauert hat – auch mit unseren Zielsetzungen im Klimaschutz beschäftigt und festgestellt  haben, dass wir eine erhebliche Lücke bei der Umsetzung der Klimaziele bis 2020 haben. Das hat dazu  geführt, dass wir gesagt haben: Wir werden alles daransetzen, diese Lücke so klein wie möglich zu  halten, sie möglichst zu schließen und vor allen Dingen unsere Ziele bis 2030 zu erreichen. Wir  haben uns deshalb auf ein Klimaschutzgesetz verständigt, aber das wird noch einer harter Kampf.

Nun haben Sie gesagt: „Verlassen Sie die Komfortzone, gehen Sie rein in den Kampf.“ Aber es wird  ein harter Kampf. Ein Beispiel ist die Kommission, die wir wahrscheinlich morgen einsetzen werden,  die sich mit dem Strukturwandel gerade auch in den Braunkohlegebieten befassen wird. „Die  Komfortzone verlassen“ – das ist leicht gesagt, aber die Menschen, die es betrifft, in der Lausitz  zum Beispiel oder in Nordrhein-Westfalen, die heute noch keine Perspektive für sich in anderen  Berufsfeldern sehen, müssen wir mitnehmen. Nachhaltigkeit gegen große Teile der Gesellschaft geht  nicht.

Damit sage ich nicht, dass alles immer Friede, Freude, Eierkuchen ist. Aber wenn ich Ihnen sage,  dass wir in Deutschland nach vielen Wirren und schwierigen Erfahrungen – wenn ich zum Beispiel an  Fukushima denke – zum Schluss doch zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens zur Kernenergie  gekommen sind, inklusive der Frage beziehungsweise parteiübergreifenden Vereinbarung, wie wir mit  den Altlasten umgehen werden, dann ist dies bei allem, was noch nicht geschafft wurde, ein gutes  Beispiel aus der vergangenen Legislaturperiode. Wenn ich Ihnen sage, dass in diesem Dezember die  letzte Steinkohlezeche schließen wird – die Voraussetzungen dafür haben wir vor mehr als zehn  Jahren geschaffen; wir haben Schritt für Schritt alle Zwischenziele eingehalten –, dann sage ich  auch, dass wir eine gute Chance haben, den schrittweisen Ausstieg aus der Braunkohle ebenfalls zu  schaffen und gleichzeitig den Menschen in den Regionen Perspektiven zu eröffnen.

Über das Tempo wird es immer Streit geben, aber zum Schluss werden wir eine Lösung finden. Ich  verstehe ja auch die Ungeduld; diese brauchen wir vielleicht auch manchmal, damit wir überhaupt zu  Potte kommen. Aber allein die klare Zusage, dass wir neben den Perspektiven für die Menschen auch  ein Datum benennen wollen, an dem wir den Braunkohletagebau in Deutschland beenden, ist schon eine  qualitativ neue Perspektive, die wir so parteiübergreifend noch nicht eingenommen hatten.

Wir wissen, dass Nachhaltigkeit auch bedeutet, dass alle in der Gesellschaft vergleichbare Chancen  haben, dass also Bildung und Qualifizierung dazugehören. Hierbei ist eine der großen Reserven, die  Deutschland noch nicht gehoben hat, das Talent vieler Frauen. Hierbei ist eine ganze Reihe von  Gesetzen, die wir auch in dieser Legislaturperiode umsetzen werden, oder von Maßnahmen zur besseren  Kinderbetreuung zu nennen. Auch ein Rechtsanspruch auf Betreuung von Kindern in der Grundschule ist  ein Beitrag dazu, eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft voranzubringen.

Nachhaltigkeit als Schuldenabbau

Der nächste Punkt, den ich auch immer wieder anführe und der auch wichtig ist, ist, dass  Nachhaltigkeit auch etwas mit soliden Finanzen zu tun hat. Wir lagen in unserer Gesamtverschuldung  schon einmal bei über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – angesichts unserer demografischen  Entwicklung eine schwere Bürde für zukünftige Generationen. Deshalb freue ich mich, dass wir nicht  nur einen ausgeglichenen Haushalt auch für 2018 und 2019 vorlegen werden. Durch die Tatsache, dass  trotzdem Wachstum stattfindet, wird auch die Gesamtverschuldung vielleicht schon im nächsten,  spätestens im übernächsten Jahr die 60-Prozent-Marke unterschreiten. Das ist nicht irgendeine  Zahlenspielerei, sondern eine gute Nachricht für zukünftige Generationen.

Wir haben ansonsten noch in zwei Bereichen viel zu tun. Das ist zum einem der Bereich  Artenvielfalt. Ich bin sehr froh, dass wir uns entschieden haben, jetzt ein Aktionsprogramm  Insektenschutz aufzulegen. Auch da könnte man wieder sagen: Das ist nicht schnell genug. Wie viele  Bienen und Insekten müssen eigentlich erst nicht mehr da sein, bevor wir handeln? Manch einer  findet, dass wir da sehr langsam sind. Aber wir haben uns vorgenommen, hier etwas zu tun.  Ackerbaustrategie, vernünftigere Tierhaltung, Label dafür, auch mehr Konsumentenaufklärung – das  und vieles andere ist sehr wichtig. Sarah Wiener war ja eben hier und hat gesagt, was man aus  Produkten machen solle.

Das Zweite ist die Frage des Flächenverbrauchs, wobei auch wir in Deutschland unsere Ziele noch  nicht erreicht haben. Die Hektarverbrauchszahlen sind heute deutlich niedriger im Vergleich zu der  Zeit, in der ich Umweltministerin war. Aber wir wollten längst noch weniger Flächenverbrauch haben.  Deshalb müssen wir auch hier noch weiterarbeiten.

Wir haben 2017 die neue Nachhaltigkeitsstrategie aufgelegt und planen für 2020 die nächste große  Weiterentwicklung. Jetzt heißt es erst einmal, die Zwischenziele zu erreichen. Da wird auch die  Frage im Raum stehen – und hierbei bitten wir Sie natürlich um Mithilfe –, ob wir weitere  Indikatoren brauchen, ob die Indikatorenbasis ausreicht. Deshalb wird die Bundesregierung schon  sehr bald zur Diskussion über ein Strategie-Update einladen. Wir müssen uns natürlich auch fragen:  Wie werden wir noch kohärenter? Ich widerspreche ausdrücklich der Aussage, dass der jetzige Koalitionsvertrag nicht auf  Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Wir haben vielleicht nicht so markige Worte, aber in den  Kennzahlenbereichen, die ich genannt habe – Klimaschutzgesetz, Einhaltung der Ziele 2030, auch das,  was jetzt in der EU zur Debatte steht –, werden wir schon eine ganze Menge an großen Aufgaben  haben. Ich habe das auch am Beispiel der Braunkohlestrategie und der dazu gebildeten Kommission  erwähnt.

Im Übrigen: Ein Thema, das mit Nachhaltigkeit sehr viel zu tun hat, ist das Ziel gleichwertiger  Lebensverhältnisse. Wir haben vielleicht zu lange gedacht, das wird sich schon von alleine in die  richtige Richtung entwickeln. Wir sehen heute, dass es in den großen Städten völlig andere Probleme  gibt – Wohnungsknappheit, hohe Mieten – als in den ländlichen Regionen, wo es schwierig ist, ein  Haus zu verkaufen, wo Angst vor Altersarmut besteht, wo man schlecht an die Verkehrsinfrastruktur  angebunden ist. Eine nachhaltige Entwicklung bedeutet auch gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz  Deutschland, trotz unterschiedlicher Gegebenheiten.

Ich schließe mit Immanuel Kant: „Der Ziellose erleidet sein Schicksal, der Zielbewusste gestaltet  es.“ Helfen Sie uns, wann immer Sie der Meinung sind, dass wir dabei Schwung brauchen. Das tun Sie  ja auch. Es wäre nicht gut, wenn wir stets sozusagen in einem Wohlfühlbecken zusammenlebten. Wir  brauchen schon auch ein bisschen Push. Ich glaube, wir sind bei der Frage, wie wir Globalisierung  entwickeln, einer Meinung, nämlich dass wir auf multilaterale Strukturen setzen. Wir sind uns,  glaube ich, auch einig, dass Europa gemeinsam agieren muss. Ein bisschen unterschiedlicher Meinung  sind wir manchmal über das Tempo, wie wir national agieren. Aber wir haben uns einiges vorgenommen.

Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit, wünsche Ihnen alles Gute und danke jedem Einzelnen,  der heute hier ist und sich auch mit seiner Anwesenheit den großen Zielen verpflichtet hat. Politik  wird letztlich für die Menschen und mit den Menschen gemacht; und je mehr dabei sind, umso leichter  fällt uns in der Politik die Arbeit. Herzlichen Dank.

->Quelle:  bundesregierung.de/bkin-nachhaltigkeit.pdf