Wie der Glaube an die Schönheit eine Krise in der Physik ausgelöst hat

Anil Ananthaswamy untersucht in nature Sabine Hossenfelders Analyse „How Beauty Leads Physics Astray – Lost in Math“, warum das Fach in einer Sackgasse steckt.

„Warum sollten sich die Naturgesetze darum kümmern, was ich schön finde?“ Mit dieser Aussage will die theoretische Physikerin und produktive Bloggerin Sabine Hossenfelder in ihrem neuen Buch Lost in Math eine Geschichte erzählen, die sowohl beruflich als auch persönlich ist. Sie erforscht den Morast, in dem sich die moderne Physik befindet, dank der Verbreitung von Theorien, die nach ästhetischen Kriterien entwickelt wurden, und nicht anhand von Experimenten. Das Buch zeigt auch Hossenfelders eigene Kämpfe mit diesem Ansatz.

[note Anil Ananthaswamy ist preisgekrönter Journalist und war stellvertretender Nachrichtenchef der Londoner Zeitschrift New Scientist. Er war Gastredakteur für das Science Writing Programm an der University of California in Santa Cruz, und organisiert einen jährlichen Wissenschaftsjournalismus-Workshop am National Centre for Biological Sciences in Bengaluru, Indien. Er ist freier Mitarbeiter für Front Matter der Proceedings of the National Academy of Science. Er schreibt regelmäßig in den wissenschaftlichen Zeitschriften. Sein erstes Buch, The Edge of Physics, wurde 2010 von Physics World zum Buch des Jahres gewählt, sein zweites The Man Who Wasn’t There, gewann 2015 einen Nautilus Book Award. Through Two Doors at Once erscheint am 07.o8.2018 (nach anilananthaswamy.com).]

Hossenfelder – eine Forscherin, die sich auf Quantengravitation und Modifikationen der allgemeinen Relativitätstheorie am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) in Deutschland spezialisiert hat – bringt eine pointierte neue Stimme in die Besorgnis, die seit mindestens zwei Jahrzehnten in der Physik rumort. 2006 feuerten Lee Smolin mit „The Trouble with Physics“ und Peter Woit mit „Not Even Wrong“ die ersten Salven auf den Trend, mathematische Eleganz über empirische Beweise zu stellen. Beide Bücher nahmen die Stringtheorie aufs Korn, eine „Theorie von allem“, in der die grundlegenden Bestandteile der Natur Saiten sind, die in viel mehr räumlichen Dimensionen schwingen als die bekannten drei. Seit ihrem Eintritt in die Mainstream-Physik Mitte der 80er Jahre hat die Theorie es versäumt, Vorhersagen zu treffen, die sie eindeutig verifizieren oder falsifizieren würden.

Lost in Math – Titel – Sabine Hossenfelder

[note In Lost in Math (erschienen am 12.06.2018 auf Englisch – Ende September auf Deutsch unter dem Titel „Das hässliche Universum – warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in  die Sackgasse führt“) kritisiert Hossenfelder die ihrer Meinung nach fehlgeleitete Motivation der Suche nach mathematischer Schönheit fundamentaler Theorien in der Physik, ein verbreitetes Herdenverhalten (Schwarmdenken), und einen Hang zu voreiligen Veröffentlichungen (ähnlich dem ambulance chasing bei Anwälten in den USA, das von der Notwendigkeit getrieben wird möglichst oft zitiert zu werden). Die Einstufung in vom mathematischen Standpunkt oder im Sinn des Reduktionismus häßliche physikalische Theorien ist ihrer Meinung nach weitgehend eine Frage der Konvention und nicht weit von theologischen Überzeugungen entfernt. Da experimentelle Daten fehlten, greife man zu nicht-empirischen Argumenten, was aber nach Hossenfelder nie objektiv sein kann und Tür und Tor für Wunschdenken und mehr oder weniger unbewusste kognitive Vorurteile öffnet (nach wikipedia.org/Sabine_Hossenfelder). In einem SPIEGEL-Gespräch ?äußerte sich die Physikerin über die irregeleitete Suche nach der Weltformel, Einsteins Abscheu vor dem Urknall und Fachkollegen, die einfach so neue Elementarteilchen erfinden.]

Auch Hossenfelder befasst sich mit der Stringtheorie, aber ihre Breitseiten sind grundlegender. Sie verweist auf den Mangel an experimentellen Daten, der sich noch verschärfe, da die für die Sondierung immer höherer Energien und kleinerer Entfernungen benötigten Maschinen immer kostspieliger würden. Angesichts dessen ist sie besorgt, dass zu viele Theoretiker mathematische Argumente und subjektive Ästhetik verwenden, um die Gültigkeit einer Theorie zu beurteilen.

So hinterfragt Hossenfelder den Wunsch nach Natürlichkeit – die Vorstellung, dass eine Theorie nicht erfunden werden sollte oder Parameter haben sollte, die auf Beobachtungen abgestimmt werden müssen. Das Standardmodell der Teilchenphysik fühlt sich für viele Physiker wie eine solche Erfindung an, trotz seines spektakulären Erfolges bei der Vorhersage von Teilchen wie dem Higgs-Boson, das am Large Hadron Collider (LHC) am CERN, dem europäischen Teilchenphysiklabor bei Genf, entdeckt wurde. In der Theorie, um zu verhindern, dass die Masse der Higgs über vernünftige Grenzen hinaus ansteigt, müssen bestimmte Parameter genau so eingestellt werden, anstatt aus ersten Prinzipien abgeleitet zu werden. Das riecht nach Unnatürlichkeit.

Um diese „Hässlichkeit“ loszuwerden, entwickelten Physiker die Supersymmetrie – eine elegante Theorie, bei der jedes bekannte Teilchen ein hypothetisches Partnerteilchen hat. Supersymmetrie machte die Higgs-Masse natürlich. Es zeigte auch, wie drei der vier fundamentalen Kräfte der Natur eine bei Energien gewesen wären, die kurz nach dem Urknall existierten (ein ästhetisch ansprechendes Szenario). Es lieferte sogar unerwartet ein Teilchen, das Neutralino, das die dunkle Materie erklären könnte – Materie, die unsichtbar ist, aber aufgrund ihrer beobachteten Gravitationswirkung auf Galaxien und galaktische Cluster existiert. Hossenfelder erklärt, dass die Supersymmetrie durch die Kombination von allem, was theoretische Physiker schätzen (Symmetrie, Natürlichkeit, Vereinheitlichung und unerwartete Einsichten), zu einem „Superstimulus“ geworden ist – einem künstlichen, aber unwiderstehlichen Auslöser“.

Selbstbewusst,  mit sarkastischem Witz  – kühne Fragen

Aber trotz jahrzehntelanger Theorien von Hunderten von Spitzenphysikern sind sich alle einig, dass die Supersymmetrie in Schwierigkeiten steckt. Die natürlichste Variante, die keine Feinabstimmung erfordert, wurde durch die LHC-Daten ausgeschlossen. Hossenfelder zitiert die Theoretikerin Nima Arkani-Hamed, dass sich die „besten Leute“ dieses Problems schon lange vor dem Start des LHC bewusst waren. Hossenfelder schimpft sie abwertend „beste Leute“ – es werden keine Namen genannt – dafür, dass sie weitgehende Behauptungen nicht „Bullshit“ nennen, der LHC entdecke Supersymmetrie oder dunkle Materie.

Hossenfelder trägt oft einen Journalistenhut. Interviews mit hoch angesehenen Physikern (wie dem Theoretiker Garrett Lisi und den Nobelpreisträgern Steven Weinberg und Frank Wilczek) bilden einen bedeutenden Teil von Lost in Math, da Hossenfelder versucht, das Metier und ihre eigene Unzufriedenheit damit zu verstehen. Wir werden in unzählige Probleme eingeführt, welche die Physik plagen, wie die Feinabstimmung des Standardmodells, das Fehlen einer Theorie der Quantengravitation und die Sorge darüber, was die Quantenmechanik wirklich über die Natur der Wirklichkeit aussagt. (Vollständige Offenlegung: Letzteres ist das Thema meines bevorstehenden Buches Through Two Doors at Once, das Hossenfelder unterstützt hat). Hossenfelder sorgt sich auch um den Mangel an empirischen Beweisen, die bei der Überprüfung der Lösungen berücksichtigt werden müssen (siehe N. Wolchover Nature 555, 440-441; 2018).

Sie reproduziert viele ihrer Gespräche mit Physikern so ausführlich, dass sich die Inhalte  gelegentlich wiederholen. Sie hätte ihre eigene starke Stimme benutzen können, um einige der Argumente zu bündeln. Dennoch gibt es Momente, in denen Hossenfelders journalistische Streifzüge auffallen. So ist ihr Bericht über die Begegnung mit dem einschüchternden Weinberg, der „wie ein Buch spricht, fast druckfertig“, selbstherrlich witzig und punktgenau (ich spreche aus eigener Erfahrung).

Lost in Math ist selbstbewusst,  mit saurem Witz ausgestattet und stellt kühne Fragen. Hossenfelders Twitter-Anhänger und Leser ihres Blogs „Backreaction“ werden ihren grenzenlosen Stil erkennen. Aber nicht alle Physiker werden ihr zustimmen. Das Theoretisieren ohne empirische Daten ist nicht neu und hat sich ausgezahlt. So nutzte der Physiker Murray Gell-Mann Anfang der 60er Jahre die Symmetrie, um mit dem Standardmodell aufzuräumen und die Existenz von Teilchen vorherzusagen, die er Quarks nannte. Die Berechnungen erwiesen sich als richtig, und er gewann 1969 den Physik-Nobelpreis für die Arbeit. Wie er beim Nobelbankett bemerkte: „Die Schönheit der Grundgesetze der Naturwissenschaft, wie sie sich in der Erforschung der Teilchen und des Kosmos zeigt, ist mit der Geschmeidigkeit eines Gänsesägers verbunden, der in einem klaren schwedischen See taucht.“

Hossenfelder ist sich dessen bewusst, aber sie fordert auch diejenigen heraus, die versuchen, die gegenwärtige Sackgasse in der Physik zu durchbrechen, indem sie darauf bestehen, dass die Natur für immer schön sein muss. Sie gibt zu, dass „sich über ästhetische Verzerrungen zu beklagen“ die gewaltigen Probleme in der Physik nicht verschwinden lassen wird, und plädiert für ein paar Grundregeln. Dazu gehören die Sicherstellung, dass es ein echtes Problem gibt, das sich aus bestehenden Konflikten in Theorie und Daten ergibt, die Klarheit über die eigenen Annahmen (wie z.B. der Wunsch nach Natürlichkeit oder Einfachheit) und die Verwendung empirischer Beweise für die Wahl der richtigen Mathematik für die vorliegende Physik. Sie sind ihre Kompasspunkte, um zu verhindern, dass wir uns in einem mathematischen Dschungel verirren, wie schön er auch sein mag.

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