Euractiv: Mit „blauem Wasserstoff“ gegen das Henne-Ei-Problem

Brückentechnologie auf dem Weg zu grünem H2

Die Europäische Kommission hat sich ein langfristiges Ziel zur Förderung von sogenanntem „grünem Wasserstoff“, der zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, gesetzt, schreibt Frédéric Simon (übersetzt von Tim Steins) am 11.12.2020 auf EURACTIV.com. Als Brückentechnologie will man in Brüssel aber auf Wasserstoff auf fossiler Basis in Kombination mit CO2-Speicherung setzen, um den Markt in der Anfangsphase schneller wachsen zu lassen, so ein hochrangiger EU-Beamter.

Die künftige EU-Finanzierung für die Gasinfrastruktur – einschließlich Wasserstoffspeicherung und Pipelines – wird in einer bevorstehenden EU-Verordnung über transeuropäische Energienetze geklärt werden, die die Europäische Kommission voraussichtlich am 15. Dezember veröffentlicht. Gleichzeitig wächst der Druck auf die EU-Exekutive, finanzielle Unterstützung für Infrastruktur bereitzustellen, die den Übergang zu sauberer Energie beschleunigen soll.

„Gaspipelines müssen wir beispielsweise – mit Hilfe von EU-Geldern – so entwerfen, dass sie in der Lage sind, auch Wasserstoff zu transportieren – und somit für die Zukunft gerüstet sind,“ erklärt Cristian Busoi, ein rumänischer EU-Abgeordneter, der den Vorsitz im Industrieausschuss des Europäischen Parlaments innehat.

Im Laufe der Jahre hat sich die TEN-E-Verordnung von einem System, das die gesamte Energieinfrastruktur – einschließlich fossiler Brennstoffe – unterstützt, zu einem System entwickelt, das hauptsächlich Strom- und Gasnetze fördert, stellt derweil Diederik Samsom, der Stabschef des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Frans Timmermans, fest. Die Kommission wolle nun „einen völlig neuen Rahmen entwickeln, der den Blick nach vorne richtet“ und nur solche Infrastruktur unterstützt, die für den Einsatz erneuerbarer Energien benötigt wird, sagte Samsom den Teilnehmenden einer EURACTIV-Veranstaltung in der vergangenen Woche. Dies gelte allerdings auch für Wasserstoff: „Wir richten unsere Augen nach vorn; wir zielen auf 100 Prozent grünen Wasserstoff in der Zukunft. Aber wir erkennen auch die Tatsache an, dass wir, um dorthin zu gelangen, möglicherweise eine Übergangsphase mit blauem Wasserstoff benötigen. Und wir passen unsere Finanzierungspläne entsprechend dieser Übergangsphase an.“

Nach Ansicht der Europäischen Kommission wird Wasserstoff zur Stabilisierung von Nachfrage und Angebot im Elektrizitätssektor benötigt, aber auch als CO2-arme Energiequelle für Schwerindustrien wie Stahl und Chemie, die wohl nicht vollständig elektrifiziert werden können.

Wasserstoff ist ein sauber verbrennender Brennstoff, der bei der Verwendung in industriellen Prozessen kein CO2 ausstößt. Allerdings basiert heute fast die gesamte Wasserstoffproduktion auf fossilen Brennstoffen. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) stammen weniger als 0,1 Prozent der weltweiten Produktion aus sauberer Wasserelektrolyse.

„Wir brauchen eigentlich blauen Wasserstoff, um das Huhn- und Eiproblem zu lösen,“ sagte Samsom in Bezug auf Wasserstoff auf fossiler Basis mit CO2-Abscheidung und -speicherung (CCS), um die Emissionen unterirdisch zu speichern. „Wir müssen die Nachfrage nach und das Angebot von Wasserstoff beschleunigen, und das können wir nur dann in der erforderlichen Geschwindigkeit tun, wenn wir dem blauen Wasserstoff eine wichtige Rolle zuteilen. Die Art und Weise, wie wir das bewerkstelligen, ist die Art und Weise, wie wir all diese Übergänge bewerkstelligen – indem wir sie schrittweise und sorgfältig finanzieren und diese Mittel bei Bedarf dann wieder abbauen.“

Wasserstoff-„Rückgrat“

Im Juli dieses Jahres legte eine Gruppe von elf europäischen Gasinfrastrukturunternehmen Pläne vor, bis 2040 ein eigenes Wasserstoff-Pipelinenetz von fast 23.000 km Länge zu schaffen. Wenn dieses vorgeschlagene „Wasserstoff-Rückgrat“ fertiggestellt ist, würde es künftige Wasserstoffversorgungs- und -nachfragezentren in ganz Europa miteinander verbinden. Dazu gehören Industriecluster in den nördlichen EU-Ländern und Offshore-Windparks in der Nordsee, die grünen Wasserstoff aus überschüssiger erneuerbarer Elektrizität erzeugen könnten. Den Plänen zufolge werden 75 Prozent des Netzes aus nachgerüsteten Erdgaspipelines bestehen – die nach und nach überflüssig werden dürften, da die transportierten Erdgasmengen in Zukunft abnehmen werden.

Umweltschutzgruppen sehen jedoch die Gefahr, dass letztendlich viele EU-Gelder zur Unterstützung von Infrastruktur für fossiles Gas verwendet werden, während eben diese Infrastruktur in den kommenden Jahren aufgrund eines bald von erneuerbaren Energien dominierten Energiesystems unbrauchbar werden dürften. „Die EU-Instrumente sollten die Spitzen- und nicht nur die Übergangstechnologien unterstützen,“ fordert dementsprechend Lisa Fischer von E3G, einem Klima-Think-Tank. Ihrer Ansicht nach müsse jede Art von finanzieller EU-Unterstützung für fossile Gasinfrastrukturen gestoppt werden – wie es beispielsweise die Europäische Investitionsbank (EIB) in ihrer Kreditpolitik schon länger tut. „Ich stimme zu, dass sich die Diskussion über Pipelines verändert hat“, räumt Fischer allerdings ein. „Wir brauchen vielleicht eine Infrastruktur, um erneuerbare Wasserstoffquellen mit der Nachfrage in der Industrie in Einklang zu bringen“. Sie sagt jedoch auch, dass diese Infrastrukturbedürfnisse „lokalisiert und auf Industriecluster in bestimmten, einzelnen Gebieten beschränkt“ sein müssten: „Es ist ganz klar, dass wir das Leitungsnetz für den Transport von Methan nicht erweitern dürfen.“

In der Elektrizitätswirtschaft würden die meisten dieser Ansicht wohl zustimmen. Während Wasserstoff anfangs als Alternative zur Elektrifizierung dargestellt wurde, besteht das Ziel der EU heute vor allem darin, ihn künftig ausschließlich aus Erneuerbaren Energiequellen zu erzeugen, stellt Simone Mori, Europa-Direktor beim italienischen Energieversorger Enel, fest. Wasserstoff sei allerdings auch „ein ziemlich teurer Weg, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren;“ deshalb sollte er nur in Bereichen eingesetzt werden, in denen er tatsächlich die größte Wirkung erzielen kann – vor allem in der Schwerindustrie.

Der langfristigen Vision der Kommission für die Entwicklung von 100 Prozent grünem Wasserstoff stehe Enel „vollkommen offen gegenüber und begrüßt sie“, so Mori weiter. Die Herausforderung bestehe nun darin, Europas Führungsrolle bei Elektrolyseuren auszubauen, um „in den 2040er Jahren über ausreichend billigen, erneuerbaren Wasserstoff verfügen zu können“.

Einige Umweltgruppen sehen die Wasserstoffstrategie der Kommission hingegen als „trojanisches Pferd“ für die Gasindustrie. So bestehe weiterhin das Risiko, dass riesige Mengen an Steuergeldern in die Gasinfrastruktur geleitet werden: „Die Realität ist, dass die EU Gefahr läuft, in eine fossile Gasfalle zu tappen“, aus der sie nur schwer wieder herauskommen würde, heißt es in einem Bericht des Corporate Europe Observatory (CEO).

Unter den EU-Mitgliedsstaaten gehen die Ansichten über Wasserstoff indes auseinander, wobei sich zwei Gruppen von Ländern gegenüberstehen: Einerseits die Befürworter von Wasserstoff, der ausschließlich aus Erneuerbaren Energien hergestellt wird; und andererseits die Befürworter einer breiteren „CO2-armen“ Definition, die auch die Wasserstoffproduktion auf Atom- und Erdgas-Basis zulassen möchte. Zur letzteren Gruppe der Atom- und Gasbefürworter gehören die Tschechische Republik, Finnland, Frankreich, Ungarn, die Niederlande, Polen und Rumänien. Im entgegengesetzten Lager finden sich Österreich, Dänemark, Irland, Lettland, Luxemburg, Portugal und Spanien – die ausschließlich aus Erneuerbaren Energien erzeugten Wasserstoff befürworten.

Bei einem Treffen der nationalen Botschafter der 27 EU-Mitgliedsstaaten stimmten Spanien und Portugal gegen den Entwurf der „Schlussfolgerungen“ des EU-Rates zu Wasserstoff, während sich Österreich der Stimme enthielt. Die übrigen EU-Länder stimmten für den Text.

Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins