Wasserstoffbasierte Industrie in Deutschland und Europa

BEE lehnt enervis-Studie „strikt ab“

Die vertiefte Dekarbonisierung der Gesellschaft und Industrie erfordert einen verstärkten Ausbau von erneuerbaren Energien (EE) und den Aufbau von Wasserstoff-Elektrolyseur-Kapaziäten. In letzter Zeit wurden sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene H2-Strategien vorgestellt: In Deutschland ist ein Zubau von fünf beziehungsweise zehn GW Elektrolyseur-Kapazitäten bis 2030 beziehungsweise 2040 vorgesehen. Eine von enervis im Auftrag der Stiftung Arbeit und Umwelt (der IG Bergbau, Chemie, Energie) erarbeitete Untersuchung soll einen Beitrag zur Debatte über den notwendigen H2-Ausbau darstellen, indem sie die Bedarfe, Ausbaupotenziale und EE- beziehungsweise H2-Kosten für die Industrie in Deutschland und Europa abwägt. Da aber der Strom für so genannten „bunten, strommarktbasierten Wasserstoff explizit auch Strom aus Gas, Kohle und Atom mit einschließt, lehnt der Bundesverband Erneuerbare Energie e.V. (BEE) ein solches Vorgehen strikt ab“.

EE-Studie Wasserstoff – Titelblatt © arbeit-umwelt.de

Die folgenden Fragestellungen standen für die enervis-Studie im Fokus:

  1. Wie hoch ist der nationale und europäische Wasserstoffbedarf?
  2. Wie hoch ist der Strombedarf für die Elektrolyse zur Deckung des Wasserstoffbedarfs?
  3. In welchem Umfang kann der elektrolysebasierte Wasserstoffbedarf national oder europäisch mittel- bis langfristig gedeckt werden? In welchen Umfang ist ein Wasserstoffimport in Europa und Deutschland notwendig?
  4. Wie hoch sind die Gestehungskosten und Transport-kosten von technologiebasiertem Wasserstoff? Vor dem Hintergrund der Gestehungs- und Transportkosten: Welche Lieferländer kommen für den H2-Import infrage?
  5. Inwieweit beeinflusst die Zunahme von erneuerbaren Energien im Strommix langfristig die Industriestrompreise und Wettbewerbsfähigkeit einer EE- und H2-basierten Industrie?

Dafür wird die Studie wie folgt gegliedert: In einer Szenariobetrachtung wird modelliert, dass der gesamte europäische Wasserstoffbedarf sich auf 2.015 TWh im Jahr 2050 beläuft, der deutsche Bedarf auf insgesamt 450 TWh. Der Strom- und H2-Bedarf für die Gesellschaft als Ganzes sowie für die einzelnen Sektoren und Sparten der Industrie (energetisch sowie nicht-energetisch) werden dargestellt. Die Annahmen dazu orientieren sich an den Projektionen der Studie „Hydrogen Roadmap Europe“ (2019) des Fuel Cells and Hydrogen Joint Undertaking (FCH JU). (Das FCH JU ist ein gemeinschaftliches Projekt der Europäischen Kommission, der europäischen Wasserstoffwirtschaft und einschlägiger Forschungseinrichtungen in Europa. Die Studie wurde unter Einbeziehung von 17 führenden europäischen Industrieakteuren entwickelt, zeigt einen Weg für den großflächigen Einsatz von Wasserstoff- und Brennstoffzellen bis 2050 auf und quantifiziert die damit verbundenen sozioökonomischen Auswirkungen.) Da perspektivisch die Wasserstoffelektrolyse alternativlos ist, um H2 grün herzustellen, fokussiert die vorliegende Studie im nächsten Schritt auf die elektrolysebasierten H2-Erzeugungspotenziale und berechnet den damit verbundenen Strombedarf. Zwei Szenarien für die strom-marktbasierte Wasserstoffelektrolyse wurden hierfür erstellt:

  1. Szenario A: Hier können 54 Prozent des gesamten H2-Bedarfes in Deutschland und Europa aus strommarktbasierter Elektrolyse gedeckt werden.
  2. Szenario B: Hier können 78 Prozent des gesamten H2-Bedarfes in Deutschland und Europa aus strombasierter Elektrolyse gedeckt werden.
    In beiden Szenarien wird somit ein signifikanter Anteil des H2-Bedarfs aus heimischer strommarktbasierter Elektrolyse gedeckt. Infolgedessen wird in Szenario B mit einer Verdopplung der europaweiten Stromnachfrage bis 2050 im Vergleich zum Basisjahr 2019 gerechnet.
    Auch diese beiden Szenarien entstammen der Fuel-Cells-Studie. Aus dem Szenariodesign folgt, dass ein Teil des Wasserstoffbedarfs nicht aus der nationalen Elektrolyse am Strommarkt gedeckt werden kann, sondern durch Import oder durch andere klimaneutrale Wasserstofferzeugungsarten gedeckt werden muss. Die beiden Szenarien für die Strom- und H2-Preise in den Jahren 2030, 2040 und 2050 werden mit dem enervis-Strommarktmodell für alle europäischen Länder modelliert. Der Fokus der Studie auf nationale und europäische Elektrolysepotenziale erklärt sich dadurch, dass die Verfügbarkeit grünen Stroms zu wettbewerbsfähigen Preisen für die heimische Industrie standortrelevant ist.
  3. Drittens wurden Gestehungs- und Transportkosten für elektrolysebasierten H2 aus verschiedenen europäischen und nicht-europäischen Ländern vergleichend berechnet. Dadurch konnte die relative Wettbewerbsfähigkeit einiger potenzieller H2-Lieferländer ermittelt werden.
  4. Viertens wurden die  von strommarktbasiert erzeugtem (sogenannter „bunter H2“) gegenüber direkt vor Ort erneuerbar erzeugtem Wasserstoff („grüner H2“) dargestellt. Dabei stehen die Fragen im Vordergrund, ob die Elektrolyse direkt an EE-Anlagen gegenüber der strommarktbasierten Elektrolyse wettbewerbsfähig ist, und wie sich die Emissionen der beiden Erzeugungsarten dabei unterscheiden. Die vorliegende Studie kommt zu folgenden Kernergebnissen:
  • Mögliche H2-Regionen: Für Wasserstoffimporte sind zunächst die Transportkosten, nicht zuletzt wegen einer noch fehlenden Leitungsinfrastruktur, noch sehr hoch, da der Transport vorwiegend auf der Straße oder per Schiff erfolgen muss. Da die Transportkosten dabei entfallen, kann der regionale Aufbau von Wasserstofferzeugungskapazitäten trotz höherer Gestehungskosten für industrielle Abnehmer interessant sein. Darüber hinaus sind bereits einige europäische Regionen mit vorhandener Anlandungs-, Leitungs- und Verteilinfrastruktur und exponierter geografischer Lage darum bemüht, sich künftig als zentrale und führende Wasserstoffhandelshubs zu positionieren. Bis 2050 sinken sowohl die Gestehungskosten für grünen1 als auch für bunten Wasserstoff2 (ohne Berücksichtigung von Abgaben, Umlagen, Steuern et cetera). Zugleich sinkt aber auch der Transportkostenanteil mit der Umwidmung und dem Neubau leitungsgebundener Infrastruktur. In Folge ist damit zu rechnen, dass sich Wasserstofferzeugungsregionen (beispielsweise Mitteldeutschland, Nord- und Ostfriesland) innerhalb Deutschlands und der EU herausbilden, die mit einem hohen EE-Anteil ideale Rahmenbedingungen für industrielle Großabnehmer aufweisen.
  • Bunter versus grüner H2: Die strommarktbasierte H2-Erzeugung – sogenannter „bunter H2“ – ist im gesamten Betrachtungszeitraum (2030–2050) deutlich günstiger als die Produktion von H2 mittels Elektrolyse direkt an EE-Anlagen. Dies liegt daran, dass ein Elektrolyseur mit Stromnetzbezug deutlich mehr Einsatzstunden ermöglicht als ein Elektrolyseur direkt an einer EE-Anlage. Zudem entfallen die Transportkosten, die mit der Elektrolyse an der EE-Anlage verbunden sind. Sonstige physische Infrastrukturen und Verbindungen zu den EE-Anlagen entfallen beim „bunten H2“ auch. Noch zu Beginn der 2030er wird „bunter H2“ eine höhere CO2-Intensität aufweisen, die mit dem angenommenen massiven EE-Ausbau ab Mitte der 30er Jahre jedoch drastisch absinken wird. Mittel- bis langfristig kann „bunter H2“ auch als weitgehend dekarbonisiert bezeichnet werden. Für den Markthochlauf von Elektrolysetechnologien stellt er damit einen wichtigen Beitrag dar.
  • H2-Bedarfsdeckung: Die Studie zeigt, dass der industrielle H2-Bedarf in Deutschland und Europa langfristig hundertprozentig durch strommarktba-sierten bunten H2 gedeckt werden kann. Kurz- bis mittelfristig besteht aber in beiden Szenarien eine Unterdeckung des Wasserstoffbedarfs. In beiden Fällen liegen die benötigten Elektrolyseurkapazitäten in 2030 und in 2040 in Deutschland zudem deutlich über den aktuellen politischen Zielwerten der nationalen Wasserstoffstrategie (2030: 90 bis 110 TWh). Diese aktuellen Zielwerte erscheinen im Rahmen der berechneten Szenarien dieser Studie und des ermittelten deutschen Wasserstoffbedarfs (2030: 110 TWh, 2040: 260 TWh, 2050: 450 TWh) als deutlich zu unterambitioniert. Es ist somit absehbar, dass es unter diesen Umständen in beiden Szenarien einen intensiven Verteilungswettbewerb von Wasserstoff zwischen dem Gebäudesektor, dem Verkehrssektor und der Industrie beziehungsweise auch zwischen Industriebranchen wie beispielsweise Chemie und Stahl geben kann. In dessen Folge kann es wettbewerbs- und strategiegetrieben zu höheren Preisniveaus kommen, die in der fundamentalen Modellierung nicht berücksichtigt wurden. Entsprechend höhere Wasserstoffimporte in die EU beziehungsweise in die einzelnen nationalen Märkte sind daher wahrscheinlich.
  • Wettbewerbsfähige Strom- und H2-Preise: Das Strompreisniveau am Großhandelsmarkt und die Industriestrompreise (ohne Steuern, Abgaben, Netzentgelte, Umlagen) fallen – ausgehend von 2030 – gemäß den Prognosen in beiden Szenarien tendenziell. Die niedrigsten Strompreise weisen die Strommärkte Europas mit einem sehr hohen EE-Anteil an der Stromerzeugung beziehungsweise einer geringen CO2-Intensität des Kraftwerksparks auf. Daher werden insbesondere exponierte Regionen Europas mit einem hohen EE-Anteil (vor allem Regionen mit einem hohen Potenzial an Offshore-Windenergieerzeugung, wie beispielsweise Deutschland, UK, Niederlande) attraktiver für EE-basierte Industrien. In Folge kann ein Green Leakage – eine Industrieabwanderung wegen ungünstigerer EE-Standortbedingungen – aus Deutschland drohen, sofern nicht die notwendigen infrastrukturellen und regulatorischen Anreize zum Erhalt und zur Transformation der heimischen energieintensiven Industrien vorhanden sind.

Zusammenfassend unterstützt die vorliegende Studie das Argument, dass kurz- und mittelfristig ein deutlich ambitionierterer Elektrolyseurausbau als in der aktuellen Wasserstoffstrategie vorgesehen notwendig ist, um Verteilungswettbewerbe zwischen Sektoren und Branchen zu reduzieren. Zudem ist es für den Markthochlauf von Elektrolyseur-Kapazitäten und damit für die Investitionsentscheidungen der energieintensiven Industrie sinnvoll, insbesondere den Einsatz von Elektrolyseuren zur Erzeugung von buntem H2 voranzutreiben. Eine Beschränkung auf die alleinige H2-Erzeugung direkt an EE-Anlagen ist betriebs- als auch volkswirtschaftlich teurer und gefährdet sowohl den schnellen Markthochlauf der H2-Technologie als auch damit die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der EE-basierten Industrie.

1 Grüner-H2-Gestehungskosten Wind Onshore Deutschland (Gestehungskosten sind identisch):
Szenario A 54 % 2030: 122 €/MWh, 2040: 93,70 €/MWh 2050: 74,10 €/MWh
Szenario B 78 % 2030: 122 €/MWh, 2040: 93,70 €/MWh 2050: 74,10 €/MWh

2 Bunter H2-Preis Strommarkt Deutschland (langfristige Preise in Szenario B sind aufgrund höheren EE-Anteils am Strommix niedriger):
Szenario A 54 % 2030: 99,51 €/MWh, 2040: 54,76 €/MWh, 2050: 34,09 €/MWh
Szenario B 78 % 2030: 107,39 €/MWh, 2040: 42,16 €/MWh 2050: 24,24 €/MWh

BEE: Diskussion um Wasserstoff – Bunter Wasserstoff ist grau

Die Enervis-Untersuchung plädiert für einen Markthochlauf mit so genanntem buntem, strommarktbasiertem Wasserstoff. Der Strom für diese Art Wasserstoff schließt explizit auch Strom aus Gas, Kohle und Atom mit ein. Der BEE lehnt ein solches Vorgehen strikt ab. „Der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern muss immer der Energiewende und der Erreichung der Klimaschutzziele dienen. Einzig und allein grüner Wasserstoff kann dies leisten. Wasserstoff darf nicht als Lebenselixier einer klimaschädlichen Energieproduktion missbraucht werden“, so BEE-Präsidentin Simone Peter.

Richtig sei hingegen, dass zur Deckung der steigenden Bedarfe an grünem Wasserstoff die inländische Elektrolysekapazität deutlich hochgefahren werden müsse. LEE NRW und BEE hatten in einer gemeinsamen Studie kürzlich dargelegt, dass die heimische Erzeugung von grünem Wasserstoff unter Berücksichtigung aller ökonomischer Faktoren konkurrenzfähig zu Importen sein kann und darüber hinaus enorme Chancen für Wertschöpfung und Klimaschutz bietet. „Der in der nationalen Wasserstoffstrategie festgelegte Zielwert von fünf Gigawatt Elektrolyseleistung bis 2030 ist deutlich zu niedrig, Hier muss dringend nachgebessert und für den Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft jetzt der notwendige Rechtsrahmen gesetzt werden“, so Peter.

Hierbei müsse sichergestellt werden, dass nachgewiesen bilanziell ausschließlich Strom aus Erneuerbaren Energien genutzt werde. Einen hohen Anteil des benötigten erneuerbaren Stroms könnten in einem ersten Schritt Post-EEG-Anlagen liefern. Besonders wichtig sei es jedoch, jetzt die Ausbaupläne für die Erneuerbaren Energien um die Bedarfe für die Wasserstoffelektrolyse zu erweitern. „Der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren Energien ist die notwendige Voraussetzung für grünen Wasserstoff“, so Peter abschließend.

->Quellen: