Wie weiter mit der Energie?

„Meisterhaft abgearbeitet“ lobte die Financial Times Deutschland am 6. Juni 2011 Merkels Energiewende. Ein solches Lob hat die Bundeskanzlerin seitdem nicht mehr gehört. Angela Merkel hatte in der Tat gegen große Teile des Unions-Mainstreams das Ruder herumgerissen. Noch zehn Tage zuvor hatten die üblichen Unions-Verdächtigen eine Horrorvision beschworen: Die Energiewende könnte fast 40 Milliarden Euro kosten.

Weil dem Bund das Geld fehle, warnten sie vor „nicht finanzierbaren Maßnahmen“. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns waren gar laut geworden; Siegfried Kauder, immerhin Vorsitzender des Rechtsausschusses, hatte öffentlich eigentlich eine Banalität angemahnt: die Exekutive sei an das Grundgesetz gebunden. Bei aller verständlichen Eile müsse der Kurswechsel rechtsstaatlich sauber vollzogen werden. Sogar Bundestagspräsident Lammert gab Unwohlsein zu Protokoll: Ein Gesetz (Laufzeitverlängerung) könne nicht einfach durch einen Beschluss der Exekutive (Moratorium) aufgehoben werden. Siegfrieds Bruder Volker fiel der undankbare Part zu, den in den eigenen Reihen umstrittenen Zickzack-Kurs ächzend schön zu reden: „Grundlage für die CDU war und ist das christliche Menschenbild“.

Das gleiche Bild hatte kurz davor nicht der Restlaufzeitverlängerung entgegengestanden – schon das Wortungetüm besaß geringe Halbwertszeit. Inzwischen sind acht von 17 Atomkraftwerken vom Netz, und noch immer nicht ist – wie von der Atomlobby in gut Filbingerscher Tradition oft prophezeit– das Licht ausgegangen. Ja, Deutschland exportiert sogar nach wie vor Strom. Was aber nicht bedeutet, dass es einfach so weiter gehen kann.

Ruhig geworden ist es mittlerweile um die Behauptung, Atomstrom sei konkurrenzlos billig und ökologisch sauber. Die Preisfrage ist entschieden: Wenn man Atomstrom ehrlich berechnete, käme die Kilowattstunde [einer Studie des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE) folgend] auf bis zu 67 Euro (sic!). Auf Schnäppchen-Niveau blieb der Kernstrom, weil die Steuerzahler bis heute mehr als 200 Milliarden Euro Subventionen aufgebracht haben und weil die AKW unzureichend versichert sind. Laut einer BEE-Studie würde eine kWh immer noch 2,36 Euro kosten, gäbe es risiko-deckende Versicherungen.

Wenn „die Frage des Energiekonzeptes zu einseitig an den reinen Produktionskosten orientiert“ ist (Schüco-Chef Dirk U. Hindrichs), führt das laut Bericht der Ethik-Kommission „zu fehlerhaften Preissignalen. Eine Überschätzung der Vorteile bei Unterschätzung der gesellschaftlichen Risiken ist dort zu beobachten, wo Haftung und tatsächliches (Er)Tragen der Risiken entkoppelt sind.“ Der Bericht zitiert den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz: „Wenn andere die Kosten der Fehler tragen, begünstigt das die Selbsttäuschung. Ein System, das Verluste vergesellschaftet und Gewinne privatisiert, ist dazu verdammt, mit Risiken fehlerhaft umzugehen.“ Und ökologisch sauber? Schon Anfang 2007, als Umweltminister, forderte Sigmar Gabriel bei der Vorstellung einer Studie des Öko-Instituts: „Es ist Zeit, mit der Legende, Atomstrom sei billig und CO2-frei, aufzuräumen; selbst wenn wir die weltweit bekannten riesigen Gefahrenpotenziale der Atomkraft unberücksichtigt lassen, schneidet Atomstrom allenfalls mäßig ab.“ Ganz zu schweigen vom Rückbau der Meiler: Man stelle sich vor, den Kölner Dom abzureißen, den Bauschutt strahlungs- und terrorsicher in Kisten zu verpacken und eine Million Jahre aufzuheben. Bis heute wissen wir nicht einmal,wohin mit den verbrauchten Brennstäben.

Wir müssen von 10 t auf 2 t CO2 herunter

Fangen wir mit den Konsequenzen aus der E-Wende an: „Die Bundesregierung hat uns letztes Jahr ein wunderschönes Energiekonzept beschert: Demnach soll Deutschland bis 2050 80 % weniger CO2 ausstoßen. Es ist zwar gut, dass wir dieses Energie-Konzept haben, aber es steht nicht drin, wie wir das erreichen sollen“, stellte Robert Schlögl, Direktor am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, jüngst in einem Vortrag in Berlin sarkastisch fest.

Deutschland verbrauchte 2010 600 Terawattstunden Strom; 96 TWh, also stolze 16 % davon, kamen bereits aus erneuerbaren Energiequellen, 2011 werden es (laut BMU) 124 TWh (21%) sein. Diese könnten den nach dem (Komplett-)Ausstieg fehlenden Atomstrom theoretisch ersetzen – wenn Sonne und Wind nicht so unregelmäßige Energielieferanten wären. Die nach dem Ausstieg fehlende Energiemenge kann also nicht durch die Erneuerbaren und durch Einsparungen, sondern nur durch neue fossile Kraftwerke ausgeglichen werden. Durch die Stilllegung der acht alten Atommeiler werden aber jetzt schon zusätzlich zu den ständig emittierten 400 Mio. Tonnen Kohlendioxid weitere 65 bis 100 Millionen in die Atmosphäre geblasen. Also müssen wir (und alle anderen Vielverbraucher, wie vor allem die USA; Indien und China werden erst noch kommen) viel mehr Energie einsparen als bisher. In Zahlen: Wir müssen von 10 t pro Kopf auf 2 t CO2 herunter.

Sichere Energieversorgung, Energieeffizienz und der beschleunigte Übergang in die kohlenstoffarme Energiewirtschaft sind nicht erst seit der Energiewende in Deutschland unabdingbare Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum. Energiepolitik muss sowohl die Endlichkeit der Ressourcen als auch die Abhängigkeiten durch einseitige Energieimporte (Gas!) berücksichtigen. Energiefragen müssen interdisziplinär unter verschiedensten Gesichtspunkten angegangen werden, wenn die Energiewende gelingen soll. Da hilft kein Streit über Fristen: Als einzige Partei haben die deutschen Grünen sich auf einem Parteitag Ende Juni 2011 darauf geeinigt, dass der Wechsel gelingen müsse,egal wann, und dass sie die Bundesregierung unterstützen, selbst wenn ihr Markenkern für die Wähler verunklart werden könnte. Die SPD fühlte sich auch ohne Parteitag in alten (schon einmal beschlossenen) Ausstiegsplänen bestätigt.

Was kommen muss, ist nicht schwer zu erahnen: Wir brauchen sämtliche Energieformen, die preiswert, ungefährlich und umweltfreundlich sind – entweder dezentral vom Scheunendach und vom Windrad von der Wiese, ob aus Erdwärme und Gezeiten, ob aus neuen Wasserspeichern, ob fürs Elektro- und Solargas-Auto, oder zentral Off-Shore und aus den Wüsten Nordafrikas. Die Ethik-Kommission stellte fest: „Die Initiative ‚Desertec‘ ist ein erster wichtiger Ansatz“. Um den volatilen erneuerbaren Energien wirklich zum Durchbruch zu verhelfen, müssen dann noch zwei Probleme gelöst werden: die Speicherung und der Stromtransport. Das verlangt viel Geld.

Umdenken ist erforderlich

Die Energiewende erfordert Umdenken, nicht nur in Politik und Wirtschaft, nicht nur hinsichtlich Änderung unseres Energie-Verbrauchs-Verhaltens, sondern auch in Forschung und Entwicklung. Die durch den Ausstieg verursachten Mehr-Emissionen würden die Zwei-Grad-Obergrenze („Grenze“ – nicht „Ziel“!) für die Erwärmung der Erdatmosphäre übersteigen. Die von der Koalition geplante unterirdische Verpressung von CO2 (CCS, Carbon Dioxide Capture and Storage) hat der Bundesrat abgelehnt. Die Bundesregierung hatte versucht, CCS gegen die Feststellung der Ethik-Kommission durchzusetzen, CCS sei „langfristig eine Sackgasse. Erst wenn Kohlendioxid als Wertstoff angesehen (und bezahlt) wird, ist eine Lösung nahe“. Ihr Chef Klaus Töpfer sagt,wenn etwas als „Abfall“ gelte, schöpfe er Verdacht. Der Name „Kreislaufwirtschaft“ sage es schon, es sei „der Gedanke an eine Inwertsetzung des Kohlendioxids nicht von der Hand zu weisen“: CO2 muss als Rohstoff in neue Prozesse eingebunden werden, etwa in die Herstellung künstlichen Erdgases (Methan, mit dem Gasnetz als Energiespeicher) oder Treibstoffs (Methanol) mit solarem (Wüsten-)Strom. Diese Prozesse haben bisher noch einen sehr schlechten Wirkungsgrad und sind nicht skalierbar (in großem Maßstab einsetzbar); das heißt, hier sind Forschungsanstrengungen und technische Fortschritte notwendig.

Einen Teil der Lösung, der allerdings noch in der Zukunft liegt und deshalb großer Forschungsanstrengungen bedarf, könnte die sogenannte Solare Raffinerie sein. Sie verarbeitet nicht nur CO2, sondern auch Biomasse. Biomasse gilt als „CO2-Sammler“, arbeitet also den Klima-Erfordernissen positiv entgegen. Wichtigste Bedingung dabei ist, dass die eingesetzten Pflanzen nicht mit der Nahrungsmittelproduktion konkurrieren – „Tank oder Teller“ darf kein Gegensatz sein. Insgesamt, so Schlögl, „ist es sowohl aus Gründen der unmittelbar heutigen Effizienzverbesserung, wie auch für die Verbesserung auf lange Sicht erforderlich, Forschung und Entwicklung in diesem bisher scheinbar ›unattraktiven‹ Bereich der Energieumwandlung zu betreiben“.

Bei der Verfolgung solcher Ansätze muss die Forschung aber erkennen, dass ihre Arbeit nicht nur naturwissenschaftliche Aspekte hat – wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und ökologische Konsequenzen werden immer wichtiger. Für die Naturwissenschaft folgt daraus eine größere Verantwortung als früher: Sie muss darauf bedacht sein, den Akteuren in Politik und Wirtschaft mehr als bisher die Auswirkungen wissenschaftlicher Erkenntnisse zu vermitteln.

Weltweit ist Deutschland „vom Leit- zum Versuchsmarkt“ (Schlögl) geworden: Die Ethik-Kommission weist uns „eine wichtige Vorreiterrolle beim Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie“ zu. Denn das Ausland beobachte „mit großem Interesse, ob es Deutschland gelingt, den Ausstieg zu schaffen. Ist dies erfolgreich, wird es große Wirkungen in anderen Ländern haben. Scheitert es, werden die Folgen auch in Deutschland gravierend sein“. Im Erfolgsfall könne es „enorme technische, ökonomische und gesellschaftliche Chancen für die weitere Profilierung Deutschlands als Exportnation im Hinblick auf nachhaltige Produkte und Dienstleistungen“ eröffnen. Deutschland könne international belegen, „dass ein Ausstieg aus der Kernenergie die Chance einer Hochleistungsökonomie ist“.

Der Weg dahin wird aber nicht so einfach und schnell sein wie beim EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz), das inzwischen von mehr als 50 Staaten übernommen oder nachgeahmt worden ist. Frankreich zum Beispiel wird noch Jahre vom Atomstrom abhängig bleiben. Immerhin ist Japan auf gutem Weg –eben passierte ein Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien das Parlament. Ohne Fukushima hätte es nie eine Mehrheit gefunden. Der neue Regierungschef Noda hat in seiner ersten Pressekonferenz bekräftigt, die Kernenergie habe langfristig keine Zukunft.

Energiewende und Demokratie

Die Energiewende muss gelingen. Zur Absicherung dieses Ziels nannte sie die Ethik-Kommission ein „Gemeinschaftswerk“. Weiter riet sie dringend dazu, einen „unabhängigen Parlamentarischen Beauftragten beim Deutschen Bundestag einzurichten und ein Nationales Forum Energiewende zu schaffen“ –vergeblich. Das hätte legitimationsstützend gewirkt, denn auf vier oder fünf Jahre gewählte Politiker müssen Entscheidungen treffen, die weit über ihre Amtszeit hinaus bindende Wirkung entfalten – noch dazu auf unsicherer Fakten-Grundlage. In der Ad-Hoc-Stellungnahme der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, auf der die Ethik-Kommission aufbaute, steht jedenfalls trocken: „Die Veränderung von Energiesystemen vollzieht sich auf einer so langen Zeitskala, dass ein Umsteuern im politisch bedingten Vierjahresrhythmus kontraproduktiv ist.“

Doch bietet das demokratische System überhaupt die Legitimation, langfristige Entscheidungen zu treffen, welche die Nachkommen auf Dekaden, auf Jahrhunderte binden? Carl Christian von Weizsäcker fragte in einem Zeitungsartikel durchaus suggestiv: „Wie vertragen sich Nachhaltigkeit und Demokratie?“ und diagnostizierte in diesem Spannungsverhältnis zwischen Nachhaltigkeit und Demokratie „Konflikte zwischen generationenübergreifenden Plänen der Klimapolitik und der Innovationskraft demokratischer Prozesse“, Nachhaltigkeit sei im „politischen Diskurs zum Dogma geworden“. Gleiches gelte für die Staatsform der Demokratie. Und er fragt, ob denn „diese beiden Prinzipien miteinander kompatibel“ seien? Nun sei Nachhaltigkeitspolitik nur dann sinnvoll, wenn sie weltweit und langfristig betrieben werde. Es vertrage sich aber nicht mit“dem Gedanken der Volkssouveränität, (…), wenn die gegenwärtige Generation ihren Nachfolgern vorschreiben würde,welche Klimapolitik sie zu betreiben haben“. Der Professor nennt das „eine Usurpation von Entscheidungsrechten der Nachfolger durch die heutigen Entscheidungsträger. Eine Politik der Nachhaltigkeit, die künftige Generationen bindet, widerspricht somit dem Demokratieprinzip“. Das Prinzip der Volkssouveränität gebe nachfolgenden Generationen das gute Recht, die heutige Klimapolitik ad absurdum zu führen, indem sie diese nicht fortsetzten. Und er spekuliert, dass die heute herrschende Mehrheitsmeinung das Hauptaugenmerk zwar auf CO2-Reduktion lege, dass dieselbe aber bald zur Minderheitsmeinung werden könne. Was er weglässt: Die Volkssouveränität endet dort, wo Millionen von Menschen in ihrer Existenz, ja in ihrem Lebensrecht bedroht sind.Deren Abwägung gegen ein theoretisches Prinzip wäre so zynisch wie die Hoffnung, dass „sich die nachfolgenden Generationen in einen nicht vermiedenen Klimawandel leichter schicken werden, als heute gemeinhin angenommen wird. Man sollte die Sorgen der eigenen Generation für den Lauf der Weltgeschichte nicht überschätzen“. Das sagt sich leicht, wenn man im wohlabgesicherten Deutschland sitzt, wo der Klimawandel schlimmstenfalls für mehr Spätlesen im Weinbau und Palmen an der Ostsee sorgen wird – woanders ist der Begriff „Klimakatastrophe“ durchaus realistisch. Am 21. Juli beschloss der UN-Sicherheitsrat nach tagelangen heftigen Diskussionen eine sogenannte präsidentielle Erklärung: In dem von Deutschland vorgelegten Text wurde von den 15 Staaten zum ersten Mal eingeräumt, dass die Erderwärmung eine Bedrohung des Weltfriedens darstellen kann.

Nicholas Stern, Ex-Weltbank-Chefökonom, hat als Erster die wirtschaftlichen Konsequenzen des Klimawandels wirkungsvoll vorgerechnet. Er sieht „die beiden größten Probleme unserer Zeit – die Überwindung der Armut in den Entwicklungsländern und die Bekämpfung des Klimawandels – unauflöslich miteinander verbunden“. Ein Scheitern beim einen werde die Anstrengungen zur Lösung des anderen untergraben. Seinen Global Deal beginnt er mit den Worten: „Deutschland hat (…) eine besondere Rolle in einem weltweiten Abkommen zur Bekämpfung des Klimawandels zu übernehmen“. Nun haben wir die Führungsrolle, anders und schneller als Stern sich das vor zwei Jahren gedacht haben mag. Mitte November stellte die Internationale Energie-Agentur ihren World Energy Outlook vor: Würden bis 2017 keine neuen Maßnahmen ergriffen, dann werde bis dahin bereits die Gesamtmenge der bis 2035 zulässigen CO2-Emissionen emittiert sein. Das bedeutet: 2017 schließt sich die Tür zur Erreichung der 2°-Grenze endgültig, wenn wir nicht handeln. Wir haben also nicht viel Zeit, das Steuer herumzureißen.
Gerhard Hofmann