„Klimawandel viel wuchtiger als Pandemie“

Dirk Messner im Solarify-Selbst-Gespräch

UBA-Präsident Dirk Messner fragt sich, ob die Covid-19-Pandemie neben allen negativen Wirkungen nicht auch etwas Positives bewirken könne und kommt zu dem Schluss, nicht nur die aktuellen guten Wirkungen auf Luftreinhaltung und Benzinverbrauch seien zu begrüßen, auch die Tatsache, dass wir bewiesen hätten, schnelles Umsteuern sei möglich. Und immer mehr Menschen sähen ein, dass „die Zerstörung von Umwelt und Biodiversität Pandemien begünstigt“. Zudem hätten wir gelernt, dass wir trotz allen wirtschaftlich-wissenschaftlichen Spitzenstandards „verletzlich“ seien. Schließlich plädiert er dafür, dass „Preise die ökologische Wahrheit sagen“ müssten.

Wenn Sie mich fragen – bringt uns der Virus zur Umkehr? Hat Covid-19 auch eine gute Seite?

So oder so – so geht es jedenfalls nicht weiter. Mit unserer Industriegesellschaft belasten wir die Natur Seit gut 200 Jahren intensiv. Die Ökosysteme stoßen an ihre Grenzen, die Luft- und Bodenverschmutzungen haben stark zugenommen, das Klimasystem gerät aus den Fugen, immer mehr Arten sterben aus. Drei Monate Lockdown sind da nicht mehr als ein Fingerschnipsen. Die Natur atmet zwar einmal kurz durch, aber es gibt keine strukturelle Verbesserung. Wir müssen unsere Wirtschaftssysteme umwelt- und klimaverträglich umbauen, müssen unseren Lebenswandel umstellen, um den drohenden gefährlichen Erdsystemwandel zu vermeiden.

Für den Moment sind die positiven Auswirkungen der Pandemie jedenfalls beachtlich. Der Kraftstoffverbrauch ist während der drei Monate im Lockdown um 30 Prozent zurückgegangen, der Stickoxid-Ausstoß auch. Wir produzieren weniger Treibhausgase, die Luft ist sauberer. Doch die Hoffnung, wir könnten durch diese Krise unsere Umweltprobleme lösen, ist trügerisch. Wenn wir nicht umsteuern, werden unsere Emissionen schnell auf dem alten Stand sein. Wir können ja aus der Krise lernen, dass schnelles Umsteuern möglich ist – selbst wenn es gravierende Auswirkungen auf viele Bereiche hat. Wir haben ja wieder mehr auf unser unmittelbares Umfeld geachtet. In den Städten haben viele genossen, dass sie im Park spazieren gehen konnten, bei offenem Fenster keinen Straßenlärm hörten oder dass sie in den blauen Himmel ohne Flugzeuge schauen konnten. Zudem haben immer mehr Menschen eingesehen, dass die Zerstörung von Umwelt und Biodiversität Pandemien begünstigt.

Stimmt diese Einsicht denn hoffnungsvoll?

Das kommt darauf an, wie wir jetzt weitermachen. Immerhin ist das Gefühl gestiegen, dass wir – bei allem Wohlstand und aller Stabilität in unserer Gesellschaft – verletzlich sind. Diese Krise erinnert uns daran, wie anfällig unsere Systeme sind, dass plötzlich etwas gänzlich aus den Fugen geraten kann. Hinzu kommt, dass wir im vergangenen Jahrzehnt von einer „Systemkrise“ in die nächste geschliddert sind: 2008/09 internationale Finanzmarktkrise, 2014/16 die Ebola-Krise in Afrika und die Sorge, sie könnte auf Europa übergreifen, 2015 die Flüchtlingsbewegungen, während der ganzen Zeit die Debatte um Biodiversitäts- und Klimakrisen – alles Folgen kurzfristigen Denkens. Es steigt die Sensibilität dafür, dass wir unsere Gesellschaften zukunftsfähig umbauen, dass wir längerfristig denken müssen. Für die Lösung der drängenden Klimakrise können solche Erfahrungen hilfreich sein. Den steigenden Wohlstand seit der industriellen Revolution haben wir mit starkem Naturverbrauch bezahlt. Das kann so nicht weitergehen. Bis Mitte des Jahrhunderts müssen wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise weitgehend vom Umweltverbrauch entkoppeln. Preise sollten stärker die ökologische Wahrheit abbilden.

Bedroht der Wirtschaftsabschwung mit Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit nicht den dringend nötigen Klima- und Artenschutz? Sagen jetzt nicht viele: Erst wieder aufbauen, dann Klimaschützen?

Zu Beginn der Pandemie hatte ich diese Sorge, da war alles auf Corona fixiert, auf den notwendigen Aufbau nach der Pandemie. Aber das hat sich nach ein paar Wochen verschoben, Klima- und Umweltschutz sind wieder präsent. Die Rettungspakete enthalten einen – wenn auch immer noch nicht zufriedenstellenden Klimaschutzanteil. Das war in der Finanzmarktkrise 2008 und 2009 anders, damals sind diese Themen für sehr lange Zeit verschwunden. Auch die Programme, mit denen der Bankensektor stabilisiert und die Wirtschaft belebt wurden, hatten nichts mit grünem Wachstum zu tun. Heute sind sich fast alle einig, dass wir Wirtschaftsbelebung mit Investitionen in Klimaschutz und Nachhaltigkeit verbinden müssen. Das ist der neue Mainstream, der bis zum Handelsblatt, dem Economist und den Wirtschaftsweisen reicht. Aus dem 130 Milliarden-Euro-Konjunkturpaket der Bundesregierung fließen 30 bis 40 Milliarden Euro direkt in diesen Bereich. Ich fand es ermutigend, dass auch aus Europa so schnell eine klare Antwort kam: der Green Deal als Antwort auf wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona – Krise. Meine Sorgen war: größere Teile der Politik und Unternehmen setzen auf Wachstum first – jetzt ist Umweltschutz zu teuer.  Aber das hat nicht stattgefunden. Klimaschutz und grüne Infrastrukturen gelten jetzt als vielversprechende Modernisierungsprojekte.

Zwar kam aus Brüssel (immerhin, wenn man ein Scheitern bedenkt) ein Kompromiss, aber nicht die Botschaft: Europa macht sich daran, der nachhaltigste Kontinent zu werden. Ein Aufbruchssignal, das gewaltige Finanzpaket mit einer Mission für die EU zu verbinden: wir beschleunigen die Transformation zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit. Das war im Vorfeld des EU-Gipfels zwar der Duktus von Merkel und Macron. Der Gipfel selbst hat diesen Spirit nicht ausgestrahlt. Wir alle sollten in den nächsten Monaten genau hinschauen, ob das Geld wirklich, wie versprochen, in grüne Ökonomie fließt.

Und wir?

Die jungen Leute von Fridays for Future sagen mir, dass wir nicht Individuen für ihr Verhalten anprangern sollen, sondern Systeme neu ausrichten müssen. Es stimmt: Die Politik muss die Strukturen so ändern, dass Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger werden. Ich finde trotzdem, wir sollten uns als Bürger  nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir müssen einmal effizienter im Umgang mit unseren Ressourcen werden – Kreislaufwirtschaft, Klimaschutz, Investitionen in die Stabilität der Ökosysteme sind hier die Schlüssel. Wir müssen aber zum anderen auch unseren Konsum überdenken. Es bringt ja  nicht mehr Lebensqualität, wenn man möglichst viele Produkte kauft, die wenig später im Müll landen. Die Obsoleszenz muss uns bewusster werden, dass nämlich bewusst auf begrenzte Lebensdauer von Produkten gesetzt wird, und Neuanschaffungen zwingend werden. Die Hersteller müssen verpflichtet werden, Handys und andere Elektrogeräte so zu bauen, dass man sie reparieren kann. Und wir müssen zweimal überlegen, bevor wir etwas wegwerfen, ob es nicht doch noch repariert werden kann. Die Politik muss dazu Standards festlegen. Wir brauchen außerdem längerlebige Elektrogeräte. Hersteller sollten mindestens so lange Garantie geben, wie es der Stand der Technik erlaubt. Und wir brauchen mehr Kreislaufwirtschaft. Statt Abfallberge zu schaffen, sollten wir unsere Ressourcen in Kreisläufen führen. Die Produkte von heute müssen die Rohstofflager von morgen werden. Wir müssen Produkte so entwerfen, dass man ihre Einzelteile später wiederverwenden kann. In Europa liegt der Anteil der Ressourcen, die wirklich recycelt werden, noch immer unter 15  Prozent. Wir kommen viel zu langsam voran.

Was kann jeder von uns ausrichten?

Wir sind in Deutschland 80 Millionen Konsumenten. Gemeinsam können wir große Hebel bewegen. Wenn wir alle weniger Fleisch essen, hilft das dem Klima. Wir entscheiden auch selbst, ob wir einen dicken SUV fahren oder mit dem Elektroauto oder dem Fahrrad. Wir fahren freiwillig 180 km/h oder 100. Wer allerdings anspricht, dass wir unseren Fleischkonsum überdenken sollten, wird (noch) sofort verdächtigt, er wolle die Freiheit einschränken. Genauso ist es beim Tempolimit auf Autobahnen. Mit Tempo 120 km/h liegen die Einsparungen bei 2,6 Millionen Tonnen jährlich, so das Umweltbundesamt. Selbst ein Tempolimit von 130 km/h reduziert die Emissionen bereits um 1,9 Millionen Tonnen – und zwar sofort und praktisch ohne Mehrkosten. Für ein Tempolimit von 100 km/h ergäben sich sogar jährliche Treibhausgasminderungen in Höhe von 5,4 Millionen Tonnen Kohlendioxid-Äquivalenten.

Ich möchte erreichen, dass wir weniger ideologisch, nüchterner über diese Themen reden. Wenn wir den Klimawandel nicht eindämmen, wird das unsere Freiheit und unseren Wohlstand auf lange Sicht massiv bedrohen. Dagegen sind der Verzicht auf Schnitzel oder auf Raserei Kleinkram. Wenn es um unsere Freiheit geht, halte ich es mit dem großen Liberalen Immanuel Kant, für ihn war Freiheit „Handeln aus guten Gründen“. Es gibt sehr gute Gründe für Klimaschutz, damit Freiheitsgrade für nächste Generationen erhalten bleiben. Doch manche Menschen wollen lieber hören, dass wir mit technologischem Fortschritt und mehr Effizienz die Klimaziele quasi automatisch erreichen. Wenn es darum geht, den eigenen Lebenswandel in Frage zu stellen, wird es schwieriger. Dabei geht es gar nicht immer um Verzicht.

Die Klimakrise entfaltet aber eine ganz andere Wucht als das Virus. Die Pandemie schränkt unsere Freiheitsrechte zwar temporär ein, bis ein Impfstoff existiert, mit dem wir das Problem in den Griff bekommen. Der Klimawandel wird unseren Planeten aber auf immer verändern, dagegen gibt es keinen Impfstoff. Und er ist weiter fortgeschritten, als viele es wahrhaben wollen: Im Moment beobachten wir in Sibirien die höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Der Permafrostboden taut auf, es tritt klimaschädliches Methan aus, 25-mal klimaschädlicher als Kohlendioxid. Das beschleunigt die globale Erwärmung und führt wiederum dazu, dass das Grönland-Eis weiter abschmilzt und die Meeresspiegel steigen. Verschlimmert wird alles durch die Abholzung der Regenwälder – die , haben eine enorm wichtige Funktion bei der Bekämpfung der Klimakrise, denn sie absorbieren Treibhausgase. Wenn sie nicht mehr da sind, wird die Erderwärmung noch einmal angeschoben. In der Wissenschaft reden wir von Kipppunkten, ab denen eine Entwicklung unumkehrbar wird. Auch das Monsunsystem in Asien ist so einer, denn ab einem bestimmten Temperaturanstieg wird es in sich zusammenbrechen. Wenn es diese Regenmaschine nicht mehr gibt, hat das gravierende Folgen für Landwirtschaft und Ernährung. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir zum ersten Mal dazu in der Lage, Erdsystemwandel herbeizuführen. Wir brauchen einen umfassenden Politikwechsel zur Nachhaltigkeit, damit alle folgenden  Generationen noch ein angemessenes Leben auf dieser Erde führen können.

Es hat viel Zeit gekostet, bis in der  Gesellschaft klar geworden ist, dass der Klimawandel nicht ein Randthema ist, sondern enorme Auswirkungen auf den Menschen hat. Viele haben das inzwischen begriffen. Deswegen wird jetzt auch die Corona-Krisenbekämpfung mit Klimaschutz verbunden. Da hat in vielen Köpfen etwas geklickt. Klimaschutz heißt eben nicht Verzicht und Rückschritt, sondern mehr Lebensqualität, Sicherung des Wohlstandes, Sicherheit, Konfliktvermeidung und gute Perspektiven für unsere Kinder und Enkel.

Was hat es mit Klimapässen für Menschen auf sich, die durch den Klimawandel ihre Lebensgrundlage verlieren?

Schon heute ist absehbar, dass durch den Anstieg der Meeresspiegel bestimmte Inselketten von der Landkarte verschwinden werden. Wenn ganze Regionen durch den Klimawandel unbewohnbar werden und Menschen, die kaum zum Klimawandel beigetragen haben, ihre Heimat verlieren, müssen wir sie unterstützen. Das ist eine moralische Pflicht.  Im Augenblick haben sie keine Rechte, im Völkerrecht gibt es keine Klimaflüchtlinge. Deshalb haben wir Klimapässe vorgeschlagen. Die Länder, die stark zum Klimawandel beigetragen haben, müssen helfen. Europa gehört dazu. Wir brauchen außerdem Mechanismen, um die zu unterstützen, die durch den Klimawandel ihre Existenzgrundlage verlieren. Wir nennen das „Klimaklagen“. Das kann etwa der Bauer in Afrika sein, der mit zunehmender Hitze und extremer Dürre konfrontiert ist oder auch der in Peru, dessen landwirtschaftliche Fläche durch das Abschmelzen eines Gletschers verloren geht. In Deutschland zahlen wir den Betreibern von Kohlekraftwerken Milliarden als Ausgleich dafür, dass sie diese stilllegen müssen – ihre Eigentumsrechte werden akzeptiert. Warum sollten nicht einzelne Menschen ihre Rechte einklagen können, die durch den Klimawandel, für den sie keine Verantwortung tragen, alles verlieren? Klimapolitik ist auch eine Gerechtigkeitsfrage.

Prof. Dirk Messner – Foto © Susanne Kambor, Umweltbundesamt.de

Dirk Messner (geb. 1962) studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an Berlin und in Seoul. 1989 arbeitete er am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik und promovierte 1995 an der FU. Danach war er bis 2003 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Entwicklung und Frieden in Duisburg, später (bis 2018) Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn – ein Jahr später ging er als Professor für Politikwissenschaft an die Universität München. 2002 habilitierte er sich, ebenfalls an der FU Berlin, mit der Arbeit Herausforderungen der Globalisierung in Lateinamerika. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Entwicklungsforschung und -politik, Global Governance, internationale Politik zum Klimawandel und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Von 2004 bis 2019 gehörte Messner dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) an, ab 2009 als stellvertretender Vorsitzender, ab 2013 als Co-Vorsitzender,  gemeinsam mit Gesine Schwan ist er auch Vorsitzender des Sustainable Development Solutions Network Germany. Von Ende 2018 bis Ende 2019 war er Direktor des Institute for Environment and Human Security und Vizerektor der Universität der Vereinten Nationen (United Nations University, UNU) in Bonn.