Viskos und elastisch: Gletscher verhalten sich „fester“ als gedacht

AWI-Forscher zeigen: Elastische Verformung spielt viel wichtigere Rolle als bislang bekannt

Schmelzende Gletscher tragen erheblich zum globalen Meeresspiegelanstieg bei. Um diesen möglichst exakt vorhersagen zu können, müssen alle relevanten Prozesse in den großen Gletschern der Welt in Computermodellen realitätsnah nachgebildet werden. In den meisten Simulationen wird das Eis dabei ausschließlich als fließender Körper betrachtet. Wie eine Modellierungsstudie unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts nun nachweist, wurden dabei die Festkörpereigenschaften des Eises zu stark vernachlässigt. So konnten die Forschenden am Beispiel eines Gletschers an der Küste Grönlands zeigen, dass etwa die Gezeiten des Meeres das Eis noch in mehreren Kilometern Entfernung landeinwärts elastisch verformen. Die Untersuchung ist in Nature Communications: Earth & Environment open access erschienen.

Grönland – Überblick über das Untersuchungsgebiet, einschließlich der Standorte der GPS-Stationen auf dem Eisflusslinienprofil. Die darunter liegende Hintergrundkarte zeigt die Sohlenhöhe hb. Gelbe Linien stellen Konturen des basalen Reibungskoeffizienten k2 dar. Weiße Linien kennzeichnen die simulierte Wasserdruckdifferenz ?pw (Hochwasser minus Niedrigwasser) im hydrologischen System. Das Fließlinienprofil (rote Linie) wird für ein Fließlinienmodell der Gletscherbewegung verwendet. Die Grundlinie, an der das Eis aufschwimmt, liegt bei 0 km. Die Scharnierzone, die Zone, in der sich die Eiszunge durch Biegung verformt, ist durch zwei schwarze Linien dargestellt, eine an ihrer oberen Grenze direkt an der Grundlinie und eine an der unteren Grenze 4 km stromabwärts der Grundlinie. Die Einfügung zeigt das CUAS-Gebiet, das das NEGIS-Einzugsgebiet einschließlich des 79°NG-Einzugsgebiets umfasst, als schwarzes Polygon. Das rote Rechteck markiert das Gebiet in der Nähe der Erdungslinie, wie in der Abbildung gezeigt – Grafik © AWI, nature communications, BY-CC 4.0

Der gigantische Nioghalvfjerdsfjorden-Gletscher im Nordosten Grönlands liegt auf 79 Grad nördlicher Breite und wird deshalb auch kurz als „79°NG“ bezeichnet. Der Koloss fließt direkt in die Grönlandsee und beinhaltet ein Eisvolumen, das den globalen Meeresspiegel um etwa 1,1 Meter steigen lassen würde, wenn es komplett abschmilzt. In Folge des Klimawandels hat sich der Eisverlust am 79°NG deutlich erhöht. So werden zum Beispiel die vom Gletscher gekalbten Eisberge immer größer. Im September 2020 etwa brach ein Brocken ab, der größer war als die Fläche von Paris mit 112 km2.

„Wenn wir den mit dem Eisverlust verbundenen Meeresspiegelanstieg noch genauer prognostizieren wollen, müssen wir in den Computermodellen das Fließen von Gletschern wie dem 79°NG möglichst exakt abbilden“, sagt Julia Christmann, Studienerstautorin und AW-Glaziologin. „Damit die benötigte Rechenleistung nicht zu groß wird, werden die Bewegungen von Gletschern oft stark vereinfacht dargestellt. Die Simulationen beschreiben das Eis dann nur fließend. Aber Gletschereis hat auch Festkörpereigenschaften, die in den Modellen so gut wie nie betrachtet werden. Unsere Studie zeigt, dass genau diese Festkörpereigenschaften eine wichtige Rolle spielen und dass es sich lohnt, sie in die Simulationen zu integrieren.“

Zusammen mit ihrem internationalen Studienteam aus Deutschland, Dänemark und den USA entwickelte Julia Christmann eine Simulation des 79°NG, die das „elastische“ Festkörperverhalten und das „viskose“ Fließverhalten des Gletschers kombiniert. Dabei wird auch das subglaziale Wasser unter dem Gletscher berücksichtigt, für das AWI-Glaziologe Thomas Kleiner das Hydrologiemodell des AWI angewendet hat. Um zu prüfen, wie gut diese „viskoelastische“ Simulation den wirklichen 79°NG nachbildet, verglichen die Forschenden die Computerdaten mit den realen GPS-Bewegungsdaten des Eises aus einer AWI-Feldforschungskampagne und Satellitenfernerkundungsdaten.

Wir konnten zeigen, dass die elastische Komponente unter anderem dort wichtig ist, wo der Gletscher ins Meer fließt“, erklärt Julia Christmann, die die Arbeiten im Rahmen des BMBF-Projektes GROCE (Greenland Ice sheet Ocean Interaction) durchgeführt hat. „Dort befindet sich unter dem Eis Meerwasser, der Gletscher hat also keinen Kontakt mehr zum Boden. Ebbe und Flut heben und senken die schwimmende Eisplatte. Außerdem drückt das Ozeanwasser auf das damit verbundene subglaziale Wasser unter dem Eis an Land und verändert dort die Gleitgeschwindigkeit des Gletschers. Das elastische Gezeitensignal verformt den Gletscher noch 10 Kilometer landeinwärts von der Aufsetzlinie, an der das Eis noch auf dem Boden aufliegt. Diese Fernwirkung der Gezeiten auf das Inlandeis war zwar aus der Antarktis bekannt, wurde jedoch in Grönland bislang kaum berücksichtigt.“

Eine weitere überraschende Erkenntnis: Auch jenseits des Gezeitensignals, weit im Landesinnern, tritt die Festkörperverformung auf. Und zwar immer dort, wo der Gletscher mit relativ hoher Geschwindigkeit – über 70 cm pro Tag – über „Berge“ und große Bodenwellen unter dem Eis fließt. „Das erzeugt hohe Spannungen und führt zur elastischen Deformation des Eises“, sagt Julia Christmann. „Genau diese Orte hoher Spannung in unserem Modell passen erstaunlich gut mit Satellitendaten zusammen. Denn genau hier finden wir in ganz Grönland riesige Felder mit unzähligen Spalten im Eis. Hier wird klar, warum sich ein Gletscher ohne Festkörperkomponente nicht korrekt beschreiben lässt. Denn ein reines Fluid kann keine Spalten und Risse haben.“

Beide Phänomene – Gezeitensignal und elastische Deformation im Inlandeis – treten nach Einschätzung des Studienteams an vielen mit dem 79°NG vergleichbaren Auslassgletschern weltweit auf. „Deshalb lohnt es sich, die elastischen Komponente in die Modelle zu integrieren, auch wenn sie dadurch komplexer werden“, erklärt Prof. Dr. Angelika Humbert, Leiterin der AWI-Studie. „Denn auch von den Festkörpereigenschaften hängt ab, wie schnell ein Gletscher zum Meer fließt und wie viel Eis er dort in einem wärmeren Klima verliert. Die Prognosen zum Meeresspiegelanstieg könnten also noch exakter werden.“

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