Lesehinweis: „Der Mensch als „Meteorit“

Ignoriertes Thema Artenschutz: „Biologisches Analphabetentum der Politik bringt uns noch alle um“
Gastbeitrag von Matthias Glaubrecht* im Berliner Tagesspiegel vom 16.01.2022

„Umwelt wird nur noch als Klima buchstabiert, dabei geht es auch um Flora und Fauna. Doch sogar Grüne opfern Artenschutz dem Windradausbau,“ lautet der Untertitel auf der Internetseite des Tagesspiegel. In der Print-Ausgabe: „Das Artensterben ist massiv.  Es kommt einem biologischen Börsencrash gleich. Die Politik weiß das. Konsequenzen zieht sie nicht. Nicht mal die Grünen.“ Der Hamburger Professor für Biodiversität geht in seinem Gastbeitrag kritisch mit den Grünen, aber auch mit der Politik allgemein ins Gericht.

Bau eines Windgenerators in der Lausitz – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Bis heute sei das Verhältnis von Wissenschaft und Politik angespannt. Forschung komme vor allem in Sonntagsreden vor und viel zu viele seien naturwissenschaftliche Analphabeten. Nicht ohne Grund habe erst eine „emotional berührende junge Schwedin mit ihrem Schulstreik der Klimakrise die Aufmerksamkeit verschafft, die Wissenschaftler seit vier Jahrzehnten fordern“.  Jetzt sei diese Krise zwar allgegenwärtig – doch die zweite große Krise dieses Jahrhunderts – der globale Verlust biologischer Vielfalt, kurz: das Artensterben – komme viel zu kurz.

Dass Umwelt neuerdings überhaupt nur noch als Klima buchstabiert wird, zeige der höchst bedenkliche Beschluss der Ampel-Koalition, hierzulande den Arten- und Naturschutz in den Wäldern und auf den Feldern notfalls schneller als bisher weiteren Windkraftanlagen und Stromtrassen zu opfern. Der Mensch sei zum entscheidenden Evolutionsfaktor geworden – wegen seiner Ausbreitung, seines Ressourcenverbrauchs und seiner nicht nachhaltigen Wirtschaftsweise. „Wir manipulieren dabei nicht nur die Geosphäre, wir dominieren auch die Biosphäre. Wir nutzen bereits drei Viertel der Erde für unsere Zwecke, einschließlich unserer Siedlungen, Städte und Straßen, vor allem aber für unsere Nahrungsmittelproduktion. Mittlerweile wiegt die von uns erzeugte anthropogene Masse wie Beton, Zement, Metalle und Plastik die gesamte Biomasse der Erde auf.“

Beim Artenschwund gehe es nicht allein um die großen Tiere unter den Säugern oder die auffälligen unter den Vögeln. Vor allem gehe es um die Heerscharen von Wirbellosen. Wir hätten in den vergangenen Jahrzehnten etwa in Deutschland knapp 80 Prozent der Biomasse an Fluginsekten verloren – unter anderem auch deshalb seien in Europa seit 1980 knapp ein Fünftel der Vögel verschwunden, gerade erst war in Studien von 600 Millionen weniger die Rede; in Nordamerika seien es 30 Prozent aller Vögel, immerhin drei Milliarden.

Glaubrecht nennt das „nur die nachweisbare Spitze eines globalen Verlusts an Leben, der droht, sich zur größten ökologischen Krise seit dem Ende der Dinosaurier auszuwachsen.“ Haupttreiber des Artensterbens sei der Verlust natürlicher Lebensräume an Land wie im Wasser. „Im Kern geht es – ähnlich wie beim Klima – nicht um die Erde und das Leben darauf, sondern um uns Menschen und unser Überleben auf diesem einzigen Planeten, den wir haben und je haben werden. Denn wir hängen mit unserer Ernährung und Gesundheit von den funktionierenden und resilienten Ökosystemen ab; sie produzieren Fleisch, Fisch und Früchte, alles vom Honig bis zum Holz, vom Apfel und Avocado bis zu Kaffee und Kakao. Je mehr biologische Arten wir verlieren, desto mehr ökologische Maschen gehen verloren, bis das Netz irgendwann reißt.“

*Matthias Glaubrecht ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und Wissenschaftlicher Leiter des Projekts „Evolutioneum“ am dort neu gegründeten Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Zuletzt erschien sein preisgekrönter Bestseller „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“ (2020), in dem er Fakten und Befunde zum anthropogenen Artenwandel beschreibt.

->Quelle und vollständiger Artikel: tagesspiegel.de/artenschutz-als-ignoriertes-thema-das-biologische-analphabetentum-der-politik-bringt-uns-noch-alle-um