GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel fragt: Wie wird Deutschland kohlendioxid-neutral?
In einem interdisziplinären Projekt haben Forschende der Helmholtz-Klima-Initiative eine Vision für Deutschland im Jahr 2050 entworfen, die Wege zu einem kohlendioxid-neutralen Leben und Wirtschaften aufzeigt. In ihrer Studie, die am 10.01.2022 open access in Earth’s Future erschienen ist, schauen sie aus einer fiktiven Zukunft auf die heutige Gegenwart zurück.
Deutschland 2050. Das Ziel eines kohlendioxid-neutralen Lebens und Wirtschaftens ist erreicht: Der Treibhausgas-Ausstoß ist drastisch gesunken, und nicht vermeidbare Emissionen werden ausgeglichen. Zur Vermeidung und Reduzierung tragen vor allem eine veränderte Energieversorgung und neue Lösungen in der Industrie, im Transport und im Verkehr bei. Anpassungen in der Landwirtschaft und im Landmanagement, etwa durch die Wiedervernässung von Mooren und Wiederherstellung von Seegraswiesen helfen, Kohlenstoff auf natürliche Weise einzulagern. Hinzu kommen technologische Ansätze zur Entnahme und Speicherung von CO2.
In der ungewöhnlichen Studie schauen 37 Forschende des Schwerpunkts „Netto-Null-2050“ der Helmholtz-Klima-Initiative aus der Zukunft auf die heutige Gegenwart zurück. In einem sogenannten „Backcasting“-Ansatz führen sie Analysen aus Energiesystemmodellen, Erkenntnisse zur Kreislaufwirtschaft im Kohlenstoff-System und Auswertungen des nationalen Potenzials zur Entnahme von Kohlenstoff zusammen. Die Ergebnisse sind in Form eines Rückblicks auf die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre aus dem Jahr 2050 zusammengefasst. „Unsere Vision hilft, die Diskussion stärker auf das Ziel unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu lenken“, erklärt Dr. Nadine Mengis, Klimawissenschaftlerin am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Koordinatorin der Studie. „Aus unserer Netto-Null-Vision können wir Schlüsse für unser heutiges Handeln ziehen: Wir sehen, dass wir unser Ziel nur erreichen, wenn der Ausstoß von CO2 durch den Ausbau der Erneuerbaren in Rekordzeit drastisch reduziert wird. Außerdem müssen wir alle CO2-Emissionen, die wir nicht vermeiden können, wieder aus der Atmosphäre entziehen. Nur so ergibt sich unterm Strich eine Null-Bilanz.“
RE-Gnose oder Backcasting-Ansatz: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung – Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am Einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren **inneren Wandel**, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein „Future Mind“ – Zukunfts-Bewusstheit. Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren „Events“, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.
Die Vision beschreibt realistische Optionen und das Potenzial eines Netto-Null-Deutschlands. Aus der Betrachtung der verschiedenen Sektoren leiten die Autor:innen drei wichtige Aspekte ab: „Eine zügige Anpassung des Energiesystems an die Versorgung aus erneuerbaren Quellen ist der Schlüssel für das Erreichen von Netto-Null in Deutschland“, erklärt Mengis. Aber nicht alle Emissionen ließen sich vollständig vermeiden oder reduzieren, so die Wissenschaftlerin. Die Speicherung von Kohlendioxid auf natürlichem Wege könne in Deutschland nur bedingt gesteigert werden. „Deshalb mussten wir technologische Maßnahmen zur aktiven Entnahme und Speicherung in geologischen Formationen im Erdboden berücksichtigen.“ Je weniger Emissionen von vorneherein eingespart werden, desto relevanter werden diese Ansätze. „Es ist essentiell, vermiedene und entnommene CO2-Emissionen durch die Erweiterung natürlicher Kohlenstoff-Senken zu unterscheiden und zu dokumentieren. Die Wiedervernässung von Mooren ist ein perfektes Beispiel dafür“, ergänzt Aram Kalhori vom Deutschen GeoForschungszentrum Potsdam (GFZ), Ko-Koordinatorin der Studie.
„In unserer Vision entsteht der Bedarf an technologischen Maßnahmen für die CO2-Entnahme, weil wir zum einen keine starken Veränderungen im individuellen Verhalten annehmen, und zum anderen Emissionen nicht außerhalb des Landes kompensieren wollten,“ fasst Dr. Mengis zusammen. Die Umsetzung aller Maßnahmen erfordere außerdem entsprechende rechtliche und politische Rahmen, wirtschaftliche Flexibilität und gesellschaftliche Akzeptanz.
„Wir benötigen jetzt eine politische und gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir Deutschland auf ‚Netto-Null‘ bringen möchten und müssen mutige Entscheidungen treffen“, so Mengis. „Unsere Vision für Deutschland im Jahr 2050 ist aber nur ein möglicher Weg. Ob unsere Studie eine wünschenswerte Netto-Null-Zukunft beschreibt oder wir andere Wege gehen wollen – das können wir nur gemeinsam als Gesellschaft entscheiden.“
->Quellen:
- helmholtz-klima.de/zukunft-deutschland-netto-null
- Originalpublikation: Nadine Mengis, Aram Kalhori, Sonja Simon, Carina Harpprecht, Lars Baetcke, Enric Prats-Salvado, Cornelia Schmidt-Hattenberger, Angela Stevenson, Christian Dold, Juliane El Zohbi, Malgorzata Borchers, Daniela Thrän, Klaas Korte, Erik Gawel, Tobias Dolch, Dominik Heß, Christopher Yeates, Terese Thoni, Till Markus, Eva Schill, Mengzhu Xiao, Fiona Köhnke, Andreas Oschlies, Johannes Förster, Knut Görl, Martin Dornheim, Torsten Brinkmann, Silke Beck, David Bruhn, Zhan Li, Bettina Steuri, Michael Herbst, Torsten Sachs, Nathalie Monnerie, Thomas Pregger, Daniela Jacob, Roland Dittmeyer: Net-zero CO2 Germany – A Retrospect from the Year 2050, in: Earth’s Future: DOI https://doi.org/10.1029/2021EF002324
- geomar.de/n8304