Wir brauchen eine europäische Energiewende

Von Matthias Ruchser
(Zuerst erschienen im Diplomatischen Magazin 08.2014)

Nach der völkerrechtswidrigen Einverleibung der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland Mitte März 2014 verhängte der Westen umgehend Sanktionen gegen Russland. Vor Wirtschaftssanktionen, vor allem gegen den russischen Energiesektor, schreckte Europa jedoch zurück. Trotz des Rückzugs der prorussischen Separatisten aus den besetzten ostukrainischen Städten Anfang Juli ist die Ukraine-Russland-Krise nicht vorbei, solange Russland die Separatisten weiter unterstützt und die territoriale Integrität der Ukraine missachtet. Deshalb hält sich Europa die Option einer Verschärfung der Sanktionen gegen Russland weiter offen.

Doch wie eng sind die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Russland und Deutschland bzw. Europa? Russland war im Jahr 2013 Deutschlands elftwichtigster Handelspartner: Die deutschen Ausfuhren nach Russland, vor allem Technologie- und Konsumgüter, beliefen sich auf 36,1 Mrd. €. Die Einfuhren aus Russland lagen bei 40,4 Mrd. €, beschränkten sich jedoch weitgehend auf Rohstofflieferungen. So deckte Russland 2013 als Deutschlands wichtigster Lieferant von fossilen Energieträgern 38 % des Erdgasaufkommens, knapp 35 % der Rohölimporte und 27 % der Steinkohleneinfuhren ab.

Für Gesamteuropa sieht es ähnlich aus: 42 % des Erdgasaufkommens und 33 % der Rohölimporte kamen 2013 aus Russland. Insgesamt importierten die Länder der Europäischen Union (EU) 53 % ihres Energiebedarfs aus Nicht-EU-Ländern – zu Kosten von weit über einer Milliarde Euro am Tag. Die Energieimport-Abhängigkeiten der EU-Länder variieren jedoch stark, von Dänemarks Energieunabhängigkeit bis zu Maltas hundertprozentiger Importabhängigkeit – trotz hervorragender klimatischer Bedingungen für Wind- und Solarenergie. Vor allem die Osteuropäer hängen am Rohöl- und Erdgas-Tropf Russlands. Vor diesem Hintergrund hat der polnische Premierminister Tusk die Bildung einer europäischen Energieunion in die Diskussion eingebracht, um zukünftige russische Lieferstopps durch europäische Energielieferungen auszugleichen.

Sollte Europa Wirtschaftssanktionen verhängen, werden Gegenmaßnahmen Putins nicht ausbleiben. Wirtschaftlichen Schaden würden beide Seiten nehmen. Sind europäische Wirtschaftssanktionen gegen Russland vor diesem Hintergrund überhaupt möglich? Ja, denn Russland muss sich vor Wirtschaftssanktionen mehr fürchten als Europa, da seine Exportwirtschaft auf dem russischen Rohstoffreichtum beruht. Dies sind nicht nur die Primärenergieträger Rohöl, Erdgas und Steinkohle, sondern auch hohe Anteile an den Weltvorräten von Blei, Eisen, Gold, Kobalt, Kupfer, Nickel, Zink, Zinn und an Metallen der Platingruppe. Diese Liste verdeutlicht das Dilemma der russischen Exportwirtschaft.

Die große Abhängigkeit vom Rohstoffsektor führt sehr schnell zu Einbußen. Zuletzt zeigte sich dies ab 2008 aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise, als die Weltrohstoffpreise wegen der geringeren Nachfrage massiv einbrachen. Russland kann es sich nicht leisten, die Energieexporte in die Europäische Union zu unterbrechen. Zwar bildet sich in Asien eine große Energienachfrage heraus, doch fehlt Russland (noch) die Infrastruktur, um seine Energieexporte in die aufstrebenden asiatischen Volkswirtschaften umzulenken. So wird es Jahre dauern, bis die im Mai 2014 zwischen Russland und China vereinbarten Gaslieferungen über eine noch zu bauende Pipeline China erreichen werden. Selbst in den „heißesten“ Phasen des Kalten Krieges hat die Sowjetunion nie die Energielieferungen Richtung Westen unterbrochen. Und auch Putin wird dies nicht tun.

Heißt das also Entspannung für Europa? Nein, denn trotz der bis zum Jahr 2020 zu erreichenden „20-20-20-Ziele“ der Europäischen Union, also der Senkung der Treibhausgasemissionen um mindestens 20 %, des Ausbaus der erneuerbaren Energien auf 20 % am Gesamtenergieverbrauch und der Steigerung der Energieeffizienz um 20 % hat sich die Energieimport-Abhängigkeit Europas seit den 1990er Jahren stetig erhöht. Und wie reagiert die EU-Kommission im Hinblick auf die Neuformulierung der europäischen Klimaschutz- und Energieziele für das Jahr 2030? Dem deutschen EU-Energiekommissar Oettinger schwebt ein Energiesparziel von gerade einmal 27 oder 28 % vor. Stattdessen empfiehlt er Europa, seine Bezugsquellen fossiler Primärenergieträger zu diversifizieren sowie auf Fracking zu setzen, die umstrittene Technik der Erdgasförderung. Insofern bleibt sich Günther Oettinger treu, der sich in seiner fünfjährigen Amtszeit als Energiekommissar immer wieder als Gegner der erneuerbaren Energien und Verfechter der traditionellen Energien geriert hat.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der deutschen Energiewende: Weg von der Kernenergie – hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz. In den vergangenen Monaten fokussierte sich die Diskussion jedoch auf die Begrenzung der Strompreise, und so gerät schnell in Vergessenheit, dass die Energiewende keine „Stromwende“ ist, sondern auch den Wärme- und Transportsektor umfasst. In Deutschland entfällt rund die Hälfte des Endenergieverbrauchs auf die Raumwärme, in der EU sind es 40 %. Dabei sind Raumwärme, industrielle Prozesswärme und Verkehr in Deutschland und Europa noch immer von den fossilen Energieträgern Erdöl und Erdgas geprägt. Erdöl ist mit einem 34-Prozent-Verbrauchsanteil noch immer die wichtigste Energiequelle in der EU, gefolgt von Erdgas mit einem Verbrauchsanteil von 23 %. Deshalb liegen im Wärme- und Transportsektor sehr große, bisher ungenutzte Potenziale für die Steigerung der Energieeffizienz und den Ausbau der erneuerbaren Energien.

In einer ersten Reaktion auf die Ukraine-Russland-Krise veröffentlichte die EU-Kommission im Mai 2014 eine „European Energy Security Strategy“. Kurzfristig geht es der Kommission mit ihrer europäischen Energiesicherheits-Strategie darum, im Rahmen von „Energiestresstests“ zu prüfen, wie sich im nächsten Winter die Unterbrechung der Erdgasversorgung auf die Mitgliedsländer auswirken würde. Der Umstieg auf alternative Energien und die Steigerung der Energieeffizienz gehören zwar ebenfalls zu den Kommissionsvorschlägen, Priorität haben aber der Ausbau der Erdgasspeicher, die Ausweitung der Energieproduktion und neue Energiebezugsquellen.

Doch statt die Bezugsquellen von fossilen Primärenergieträgern zu diversifizieren, in dem man sich in neue Abhängigkeiten von nicht minder autoritären oder autokratischen Ländern wie Iran, Katar, dem Kaukasus, Oman oder den Vereinigten Arabischen Emiraten begibt, brauchen wir eine europäische Energiewende.

Bei der Energiewende geht es nicht darum, von Energieimporten unabhängig zu werden oder fossile Energieimporte durch die Ausweitung der heimischen fossilen Energieproduktion zu ersetzen. Bei der Energiewende geht es um die Dekarbonisierung unserer Wirtschaftsweise und die notwendige Transformation der Energiesysteme wie sie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert.

Von der deutschen Energiewende lernen wir, dass ein Fokus auf die Strompreise zu kurz gefasst ist. Deshalb wird die im Juni 2014 verabschiedete Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes – des weltweit erfolgreichsten Modells für den Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung – den Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland verlangsamen. Wenn wir jedoch die Importabhängigkeiten von russischer Kohle, Erdöl und Erdgas reduzieren wollen, so lernen wir weiter, müssen wir vor allem im Wärme- und Transportsektor die Energiewende beschleunigen. Und zwar europaweit.

Matthias Ruchser ist Leiter der Stabsstelle Kommunikation des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und er arbeitet als Berater in der Energiewirtschaft. Er publiziert regelmäßig zu verschiedenen Energiethemen, u. a. zur deutschen Energiewende, erneuerbaren Energien, Strom aus der Wüste, nachhaltige Energie für alle, die Renaissance der Kohle sowie Klimaschutzthemen.

Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) zählt weltweit zu den führenden Forschungsinstituten und Think Tanks zu Fragen globaler Entwicklung und internationaler Entwicklungspolitik. Das DIE berät auf der Grundlage unabhängiger Forschung öffentliche Institutionen in Deutschland und weltweit zu aktuellen Fragen der Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
->Quelle(n): diplomatisches-magazin.de; die-gdi.de/Matthias-Ruchser