Rückblick aus dem Anthropozän

Erste Energiewende im Blick

Historiker Helge Wendt hat sich jenen Rohstoff ausgesucht, der in Deutschland nach wie vor höchst präsent ist: die Kohle. Weltweit nimmt Wendt einen Prozess in den Blick, der ebenfalls eine Energiewende war – jene von Wind, Wasser und Holz hin zu Braun- und Steinkohle. „Schon die Römer hatten Kenntnis von Steinkohle“, erklärt Wendt, „bis heute ist nicht wirklich bekannt, wofür sie diese nutzten.“ In größerem Stil, von China über Indien bis Europa, wurde Kohle ab dem 16. Jahrhundert zutage gefördert; recht zeitgleich, trotz kaum vorhandener globaler Wissensströme.

Die größte Hürde, die es allerorten zu überwinden galt, war das Grundwasser. Erst als die Dampfmaschine erfunden war, mussten die Gruben nicht mehr mithilfe von Pferden mühsam entwässert werden. Die erste Dampfmaschine, erzählt Wendt, war dabei gar nicht die 1769 von James Watt erfundene, die sich weltumspannend in Schulbüchern findet. Schon in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts hatte ein gewisser Thomas Newcomen ein, wenn auch wenig energieeffizientes, Modell erfunden – das, bevor es bei der Grubenentwässerung zum Einsatz kam, erst einmal bei der Wasserversorgung der englischen Königsfamilie half.

Mehr als Anekdoten sammelt Wendt Wissen: über Verbrennungstemperaturen und Lagerungseigenschaften verschiedener Kohlearten ebenso wie über ihre Anwendung, etwa durch Verkokung, Diese löst störende Schwefel- und Phosphatbestandteile aus der Kohle und lässt Koks entstehen, mit dessen Hilfe im 19. Jahrhundert in großem Rahmen Metallhütten entstanden, und damit die deutsche Stahl- und später die Autoindustrie.

Noch interessanter sei, „sich all die Neben- und Abfallprodukte anzuschauen, die zu Industrien führten, an die wir kaum denken, wenn wir über Kohle sprechen“. Denn bei der Verkokung entstand auch Leuchtgas, von dem man entdeckte, dass es Fabriken, Wohnungen und Straßen erhellen kann; Steinkohlenteer legte den Grundstein für die Farben- und Pharmaindustrie. Auch das Akronym BASF steht, aus der Öffentlichkeit weitestgehend verschwunden, für „Badische Anilin- & Soda-Fabrik“ – Anilin ist ein Nebenprodukt der Kohleverarbeitung.

Abhängig von Kohle und Öl: Auch in der chemischen Industrie bräuchte es eine Wende hin zu nachhaltigen Stoffkreisläufen. Leuna – Raffinerie, chemische Fabrik und Kraftwerk Schkopau – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Von all diesen gleichsam verborgenen Kohlenutzungen ausgehend rollt Wendt das Feld sozusagen rückwärts auf und fragt, was jeweils an ihre Stelle treten könnte. Und, daraus folgend: „Kann sie allerorten ersetzt werden? Auf was können, sollten wir verzichten? Und ist – parallel zu der Energiewende hin zur Kohle – denkbar, dass auch die heutige Wende hin zu erneuerbaren Energien zu nützlichen Nebenprodukten führt?“

Ebenso wichtig wie der Blick auf die zentralen Rohstoffe der modernen Kultur und Geschichte sei der Fokus auf die chemischen Prozesse, die aus ihnen resultieren, sagt Steininger. Passend dazu ist seine Forschung sowohl am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte angesiedelt wie am Exzellenzcluster UniSysCat an der Technischen Universität Berlin, das sich dem Beitrag der Katalyse für eine nachhaltigere Chemieindustrie verschrieben hat.

„Unsere Geschichte wird – im Fall von Erdöl – nicht von einem schwarzen Naturstoff bestimmt. Sondern von einem Stoff, der durch chemische Reaktionen in unser ganzes Leben eingesickert ist“, erklärt Steininger. In Deutschland, einem Land in dem es kaum Rohstoffe, aber eine immens starke chemische Industrie gibt, gelte das insbesondere. Wenn es für eine erfolgreiche Energiewende die Sozial- und Geisteswissenschaften braucht – wäre es dann nicht gut, wenn sich das in der chemischen Forschung herumspräche? „Doch“, antwortet Steininger, „denn das würde bedeuten, dass sie diese Langzeitwirkungen von vornherein einbezieht und energetisch wie stofflich in nachhaltigen Kreisläufen denkt. Das wäre etwas radikal Neues“.

Innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft immerhin gibt es dafür seit einigen Jahren Ansätze. Regelmäßig führen Wissenschaftler der Max-Planck-Institute für Wissenschaftsgeschichte und für Chemische Energiekonversion (CEC – in Mühlheim an der Ruhr) ihre Perspektiven zusammen und arbeiten an gemeinsamen Agenden. Kurz nach der Auftaktveranstaltung gingen die Direktoren Jürgen Renn (MPI für Wissenschaftsgeschichte) und Robert Schlögl (MPI für Chemische Energiekonversion) im März 2018 zusammen unter dem Titel „Warum wir einen radikalen Systemwechsel brauchen“ mit einem Manifest zur Energiewende an die Öffentlichkeit (siehe: solarify.eu/2018/03/04/rationale-revolution). Darin heißt es in für Wissenschaftler ungewöhnlicher Deutlichkeit, es sei „nicht nur aus klimapolitischer Sicht, sondern auch aus geopolitischen Gründen jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen massiven Systemumbau in Angriff zu nehmen“.

Heute, genau zwei Jahre später, ist zumindest der Ausstieg aus der Kohle terminiert. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen gelang es bei besagtem Kohlegipfel im Bundeskanzleramt, einen Termin für das Ende der innerdeutschen Förderung zu beschließen: 2038. Viel zu spät, sagen allerdings – in heute nicht mehr so ungewohnter Deutlichkeit – zahlreiche Klimawissenschaftler.

Folgt: Nicht eine, sondern zwei Energiewenden