Zu viel Kohle für Ausstieg?

Offenbar zu großzügige Entschädigungszahlungen berechnet

„Wie Altmaier die Entschädigungen für Kohlekonzerne aufblähte“, titelte der Spiegel am 15.05.2021. Als der Minister am 03.07.2020 verkündete, die Regierung werde den beiden großen Braunkohleverstromern RWE und LEAG zusammen 4,35 Milliarden für ihre durch den Kohleausstieg entgangenen Gewinne zahlen, kam Kritik an der Höhe auf. Noch dazu hüllte sich das BMWi in Schweigen, wie die Summe berechnet worden war. Jetzt meldete das Nachrichtenmagazin gemeinsam mit dem Recherchekollektiv Correctiv, interne Dokumente deuteten auf fragwürdige Berechnungen hin.

Braunkohletagebau Welzow Süd – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Auf eine Bundestagsanfrage der Grünen hatte die Regierung ziemlich nebulös geantwortet, Grundlage sei eine „formelbasierte Entschädigungslogik“ gewesen. Fachleute hatten monatelang gerätselt, die Summen erschienen willkürlich und viel zu hoch. Auch auf SPIEGEL-Anfrage habe es bisher nur geheißen: „Die Entschädigungen sind das Ergebnis eines intensiven Verhandlungsprozesses“. Jetzt kam heraus: Das Bundeswirtschaftsministerium habe die Entschädigungen offenbar zu großzügig berechnet, als es bei der Berechnung veraltete Werte herangezogen und folglich mit 17 Euro pro Tonne CO2 einen zu geringen CO2-Preis für den Europäischen Emissionshandel zugrunde gelegt habe – mittlerweile kostet die Tonne bereits bei mehr als 50 Euro. Die Energiekonzerne kamen so in den Genuss wesentlich höherer Entschädigungszahlungen. Das Geld sollte die „endgültige und sozialverträgliche Stilllegung von Braunkohleanlagen“ befördern, steht im Kohleausstiegsgesetz.

Kohle-Entschädigungs-„Formel“ des BMWi – © correctiv.org

Oliver Krischer, stellvertretender Vorsitzender und Energieexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, nannte die Berechnung „Lobbypolitik“ und erklärte, der Bundesregierung gehe es ausschließlich darum, „möglichst viel Geld in die Kassen der großen Energiekonzerne zu schaufeln“. Denn die dem SPIEGEL und Correctiv vorliegenden internen Dokumente legten offen, wie das Wirtschaftsministerium die Entschädigungen hochgerechnet habe. Darunter auch jene „Formel“, mit der Altmaiers Haus die Milliardensummen im Januar 2020 kalkuliert habe. Zwar habe diese „keinen Eingang in die Kabinettsbefassung“ gefunden. Aber: Der Formel folgend ergeben sich rund 4,4 Milliarden Euro – fast der umstrittene Betrag.

Das Ministerium habe im vergangenen Jahr veraltete Daten herangezogen, sei daher zu massiven Fehleinschätzungen gelangt und „rechnete die Zukunft der Kohle schön“ (Correetiv). So sei entscheidend für die Höhe der Summe gewesen, welche Gewinne den Konzernen durch den Kohleausstieg entgehen würden.

Die Formel des Ministeriums enthalte zwar den (steigenden) CO2-Preis und den zu erwartenden Profit der Konzerne aus dem Verkauf ihres Kohlestroms. Correctiv: „Allerdings wurde für die Berechnung ein schon damals zu niedriger CO2-Preis angenommen. Das bedeutet geringere Kosten – und entsprechend höhere Gewinne, die entschädigt werden müssen. Dabei hatte der Preis schon Ende 2018 bei 22 Euro gelegen. Inzwischen liegt er bei über 50 Euro. Marktexperten hatten mit einem Anstieg gerechnet – nur Altmaiers Ministerium nicht. Zudem wurden gleichbleibend hohe Fixkosten angesetzt – selbst bei geschlossenen Werken.“

Die Formel habe „Entwurfscharakter“ gehabt, so das BMWi heute. Später seien neben den entgangenen Gewinnen weitere Faktoren „wie beispielsweise die Tagebaufolgekosten und die Sozialkosten“ eingeflossen. Davon sei allerdings kurz vor Verabschiedung des Gesetzes im Juni 2020 noch keine Rede gewesen – die Summe spiegele  „entgangene Gewinne“ und „vorgezogene Kraftwerksstilllegungen“, habe es damals geheißen. Correctiv vermisst bis heute Antworten auf die meisten Fragen: „Warum verwies Altmaier auf eine ‚formelbasierte Entschädigungslogik‘, wenn die Formel keine Anwendung fand? Warum kommt die dem Spiegel und CORRECTIV vorliegende Formel auf rund 4,4 Milliarden Euro – die Höhe der schließlich auch verkündeten Endsumme?“

Denn das Nachrechnen des Ergebnisses sei ziemlich kompliziert: Dazu müssten beispielsweise die Laufzeiten der einzelnen Kraftwerksblöcke eingegeben werden und ihre jeweiligen Leistungen. Correctiv: „Um mit einer anderen Formel auf dasselbe Resultat zu kommen, hätte die Bundesregierung an vielen Schrauben drehen müssen.“ Energie-Experte Karsten Smid von Greenpeace konstatiert denn auch trocken: „Altmaier ist mit seinem Versuch, die Formel zur Berechnung der Entschädigungen zur Verschlusssache zu erklären, aufgeflogen“.

Milder reagiert Felix Matthes vom Öko-Institut: „Die CO2-Preise sind zu niedrig angesetzt, aber einen solchen Anstieg innerhalb weniger Monate hat kaum jemand vorausgesehen“. Matthes hat im vergangenen Jahr ein eigenes Gutachten zur Kalkulation der Entschädigungen vorgelegt.

Brüsseler Wettbewerbshüter und die Formel  

Die Milliarden-Zahlungen für die Energiekonzerne sind nicht nur innenpolitisch, sondern auch für Brüssel brisant. Die Regierung könnte dem Karlsruher Urteil folgend die Klimaziele leichter anheben, wenn Kohlekraftwerke früher vom Netz gingen. Die sieben deutschen Braunkohlekraftwerke zählen laut Transport & Environment zu den zehn größten Treibhausgasemittenten innerhalb der EU, sechs davon gehören RWE und der Leag. Doch würde das Ausstiegsdatum vorgezogen, müssten auch die Entschädigungen neu berechnet werden.

Zum anderen sieht sich die Bundesregierung bereits einem EU-Beihilfeverfahren wegen der Entschädigungszahlungen gegenüber. Die Entschädigungszahlungen müssten laut der für Wettbewerbspolitik zuständigen Vizepräsidentin Margrethe Vestager „auf das erforderliche Mindestmaß beschränkt werden“, aber die bisher zur Verfügung stehenden Informationen, so die EU-Kommissarin, erlaubten nicht, dies mit Sicherheit zu bestätigen.

Das BMWi scheint selbst nicht sonderlich von der Seriosität seiner Formel überzeugt, schreibt die Behörde doch in einem offiziellen Dokument vom Juli 2020, das CORRECTIV vorliegt: „Das beihilferechtliche Pru?fungsverfahren soll nicht dadurch nachhaltig gesto?rt werden, dass prognostische Annahmen, die die formelbasierende Entscha?digungslogik betreffen, (…) offen gelegt werden“. Zudem würde eine o?ffentliche Diskussion u?ber „prognostische Annahmen … die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Europa?ischen Union ungu?nstig beeinflussen“. Correctiv übersetzt: „Die Prognosen in der Formel sind offenbar so fraglich, dass das Ministerium eine Diskussion darüber fürchtet – und selbst daran zweifelt, dass die Formel in Brüssel abgenickt wird. Sollte die EU-Kommission zu dem Schluss kommen, dass die Zahlungen eine unerlaubte Beihilfe darstellen, müssten die Entschädigungen neu berechnet werden.“

Smid (Greenpeace) ist überzeugt, dass „die realitätsfernen Berechnungen aus dem Hause Altmaier vor der EU-Kommission kaum Bestand haben“  werden.

Greenpeace hatte das britische Forschungsinstitut EMBER (früher Sandbag.org) mit einer Untersuchung beauftragt. Fazit: Von den rund 4,35 Milliarden Euro seien gerade einmal 343 Millionen Euro durch die Formel gedeckt, selbst wenn dabei ein konservativer CO2-Preis von rund nur 25 Euro zugrunde gelegt würde – bei 50 Euro wäre die Endsumme noch geringer. Die offiziellen Berechnungen enthielten „Schlüsselannahmen“, die zu einer „systematischen Überbewertung der Entschädigungszahlungen“ führten, so die EMBER-Experten (Greenpeace verschickte am 16.05.2021 eine entsprechende Medienmitteilung).

Umweltexperte Felix Matthes vom Öko-Institut hat vergangenes Jahr ein eigenes Gutachten zur Kalkulation der Entschädigungen vorgelegt. Er sieht den größten Fehler von Altmaiers Haus darin, dass mit fiktiven Erlösen der Kohlekonzerne gerechnet worden sei.

Correctiv-Fazit

„Durch das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat sich der Wind nun endgültig gedreht. Selbst wenn die Regierung ungern am Kohleausstiegsdatum rüttelt – die Preise des europäischen Emissionshandels und die verschärften Klimaziele werden die Kohle schon vorher aus dem Markt drängen. Dafür allerdings können die Kohle-Betreiber nicht entschädigt werden. Ihr Anspruch bezieht sich einzig auf das Kohleausstiegsgesetz des Wirtschaftsministeriums.“

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