Attraktivität des Forschungsstandorts Deutschlands

Harter Wettbewerb um akademisch Hochqualifizierte

Von 2020 bis 2024 sollen 30 zusätzliche Alexander von Humboldt-Professuren (AHP) auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz vergeben werden. Das schreibt die Bundesregierung laut dem parlamentseigenen Pressedienst heute im bundestag – in der Antwort (19/32468) auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion (19/32045). Durch die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte AHPs werde für internationale Wissenschaftler am Forschungsstandort Deutschland eine dauerhafte Perspektive geschaffen. Zusätzlich vergebe die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) jährlich knapp 1.000 Forschungsstipendien an internationale Wissenschaftler für befristete Forschungsaufenthalte. Solarify dokumentiert die Vorbemerkung der Fragesteller.

Hörsaal – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Durch den jährlich erscheinenden Bericht „Wissenschaft Weltoffen“ des Deutsch Akademischen Austauschdienst (DAAD) und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) sowie einer Reihe von Studien könne die Bundesregierung die Wanderungsbewegung des wissenschaftlichen Personals bewerten. Für 2022 plane der DAAD eine umfassende Studie über internationale Wissenschaftler in Deutschland. Durch die Studie sollen Vorschläge erarbeitet werden, wie unter anderem die Attraktivität Deutschlands als Forschungsstandort gesteigert werden kann und wie die Zugangswege in das deutsche Hochschul- und Forschungssystem für internationale Wissenschaftler verbessert werden können. Zur Frage, wie viele Akademiker in den letzten zehn Jahren ein- beziehungsweise ausgewandert sind, liegen der Bundesregierung nach eigener Auskunft keine Daten vor. (hib/DES)

Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Thomas Sattelberger, Katja Suding, Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
– Drucksache 19/32045 –

Deutschlands Attraktivität für Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher sowie Spitzenfachkräfte steigern (Brain Gain)

Vorbemerkung der Fragesteller

Der internationale Wettbewerb um akademisch Hochqualifizierte – also Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher sowie professionelle Spitzenfachkräfte – ist hart: Diese können sich in der Regel aussuchen, an welchem Ort sie forschen, arbeiten und leben wollen und ziehen aus Deutschland weg, sobald die Rahmenbedingungen nachteilig werden (vgl. beispielsweise die Analyse des Focus vom 26. Oktober 2019, S. 29, https://www.focus.de/magazin/archiv/wissen-die-rueckkehr-der-superhirne_id_11274019.html).

In diesem Zusammenhang ist es beunruhigend, dass die OECD und die Bertelsmann-Stiftung Ende 2019 zu dem Schluss gekommen sind, dass sich Deutschland unter den damals 35 OECD-Ländern nur auf Rang 12 in puncto Anziehungskraft für hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker befindet (https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Migration_fair_gestalten/IB_Policy_Brief_Wie_attraktiv_ist_Deutschland_122019.pdf).

Wenn es um die Gewinnung und das Halten exzellenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Ländern in Deutschland geht oder darum, deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in den USA und in anderen Ländern forschen, für Deutschland zurückzugewinnen, spricht man von „Brain Gain“. Von „Brain Drain“ ist hingegen dann die Rede, wenn Spitzenfachkräfte aus Deutschland fortziehen (vgl. auch den Antrag der Fraktion der FDP von 2018 auf Bundestagsdrucksache 19/5077). Dabei wird insbeson-dere das einseitige Bestreben, aktiv Spitzenforscher aus dem Ausland im Sinne des „Brain Gain“ abzuwerben, teilweise kritisch bewertet (vgl. SZ vom 19. Dezember 2019, https://www.sueddeutsche.de/politik/fachkraefteoffensive-nicht-nur-auf-uns-schauen-1.4730212).

Exakte und vollständige Daten über die Wanderungsbewegungen hochqualifizierter deutscher Staatsangehöriger gibt es nicht (vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/684420/04d9e83bba4f2afd3a396be78a2d0eb5/WD-6-132-19-pdf-data.pdf, S. 8 und 9). Lediglich vereinzelt gibt es Zahlen, die den Prozess quantitativ beschreiben. So teilte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in einem Policy-Brief von Dezember 2019 mit, dass innerhalb des letzten Jahrzehnts etwa 180 000 Menschen jährlich mit deutscher Staatsangehörigkeit aus Deutschland heraus ins Ausland gezogen seien. Im Rahmen der korrespondierenden Studie des German Emigration and Remigration Panel Study (GERPS) wurden deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Alter zwischen 20 und 70 Jahren befragt, die zwischen Juli 2017 und Juni 2018 ins Ausland verzogen oder aber aus dem Ausland nach Deutschland zurückgekehrt sind (vgl. https://www.bib.bund.de/Publikation/2019/pdf/Policy-Brief-Gewinner-der-Globalisierung.pdf?__blob=publicationFile&v=4). Daraus geht hervor, dass Menschen, die ins Ausland gehen, überdurchschnittlich hoch qualifiziert sind. So haben 76 Prozent einen Hochschulabschluss, 46 Prozent einen Masterabschluss und 13 Prozent eine Promotion. Die Motive für eine Auswanderung sind dabei hauptsächlich die eigene berufliche Perspektive (58 Prozent) bzw. die des Partners (29 Prozent).

Besonders prominent ist an dieser Stelle das Beispiel der rund 7.000 deutschen Ärztinnen und Ärzte, die bereits in die Schweiz ausgewandert sind und dort etwa jeden fünften Arzt bzw. Ärztin ausmachen (vgl. https://www.medinside.ch/de/post/warum-es-deutsche-aerzte-in-die-schweiz-zieht#:~:text=Rund%207’000%20%C3%84rztinnen%20und,deutsche%20%C3%84rzte%20wohl%20kaum%20funktionieren). Ursachen für die Abwanderung in die Schweiz sind einerseits die guten Arbeits- und Lebensbedingungen, aber auch steuerliche Vorteile (vgl. etwa https://www.aerzteblatt.de/archiv/170530/Arbeitsmarkt-Schweiz-Auf-deutsche-Aerzte-angewiesen).

Besonders signifikant ist außerdem der Nettoverlust an Forschern im Feld der Künstlichen Intelligenz (KI), einer für die Gegenwart und Zukunft grundlegenden Technik (vgl. Harhoff, 2018, https://www.ip.mpg.de/fileadmin/ipmpg/content/aktuelles/aus_der_forschung/Harhoff_-_Keynote_Nuernberg_-_Einblicke_in_die_KI-Forschung.pdf). Weil der Arbeitsmarkt im Bereich der KI momentan überhitzt ist und es daher schwierig ist, die angestrebten 100 KI-Professuren qualitativ hochwertig zu besetzen, empfahl die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) der Bundesregierung daher in ihrem Gutachten aus dem Jahr 2019, „1.000 internationale Promotionsstipendien über die nächsten fünf Jahre zu vergeben, um weitere talentierte, international mobile Nachwuchskräfte für Deutschland zu gewinnen“ (https://www.e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/EFI_Gutachten_2019.pdf, S. 30 f.). Dies steigert einerseits die Anziehungskraft Deutschlands ins Ausland und kann gleichzeitig den Pool an potenziellen KI-Professoren vergrößern.

Die auch ökonomische Tragweite der Auswanderung deutscher Staatsangehöriger wird von der Weltbank u. a. durch den finanziellen Umfang von Überweisungen von länger als ein Jahr im Ausland tätigen eigenen Staatsangehöri-gen in die Heimat beschrieben (vgl. dazu https://www.nzz.ch/meinung/deutschlands-doppeltes-migrationsproblem-zu-und-abwanderung-ld.1464988). Mit Überweisungen i. H. v. 16,6 Mrd. Dollar von im Ausland tätigen Staatsangehörigen zurück in die Heimat lag Deutschland 2017 auf Platz 9 der Auswanderungsländer und damit noch vor Ländern wie den USA, in die von im Ausland lebenden US-Amerikanern trotz der um einiges höheren Bevölkerungszahl nur 6 Mrd. Dollar überwiesen worden sind. Auch fällt auf, dass aus Ländern wie den USA oder der Schweiz deutlich mehr Geld heraus überwiesen wird, als von im Ausland tätigen eigenen (deutschen) Staatsangehörigen umgekehrt hinein überwiesen wird (s. o.).

Während sich der Anteil des internationalen Wissenschaftspersonals an den vier großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AuF) seit 2010 insgesamt auf 26,5 Prozent erhöht hat und bei der Max-Plank-Gesellschaft (MPG), Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) und Leibniz-Gesellschaft (WGL) teils deutliche Steigerungen festzustellen sind, stagniert der Anteil bei der Fraunhofer Gesellschaft (FhG) seit 2010 unverändert bei lediglich 10 Prozent („Wissenschaft weltoffen kompakt 2021“, DZHW und DAAD).

Zwei Expertinnen aus dem Bereich der Talentgewinnung von internationalen Nachwuchswissenschaftlern benennen praktische Stellschrauben, an denen es ihrer Meinung nach zu drehen gilt, um sichtbarer und attraktiver für internationale Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher zu werden. Dr. Anne Schreiter, Geschäftsführerin der German Scholar Organization (GSO), nennt insbesondere den bürokratischen Aufwand als Hindernis bei der Gewinnung von Nachwuchswissenschaftlern (vgl. Focus vom 26. Oktober 2019, S. 29; https://www.focus.de/magazin/archiv/wissen-die-rueckkehr-der-superhirne_id_11274019.html). Auch moniert sie die Intransparenz darüber, wie in Deutschland Professuren besetzt werden.

Anna Oberle-Brill, die Koordinatorin des German Academic International Network (GAIN) in New York, hat zudem die Erfahrung gemacht, dass es Nachwuchswissenschaftlern im Ausland zu oft an Netzwerken und an über-sichtlichen Beratungsstellen hinsichtlich einer Wissenschaftskarriere in Deutschland fehle (vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article205363315/Migration-Wie-Deutschland-versucht-ausgewanderte-Spitzenkraefte-zurueckzuholen.html).

Ein Hebel dafür, dass mehr internationale Spitzenforscherinnen und Spitzen-forscher sowie Spitzenfachkräfte nach einem Wechsel nach Deutschland dauerhaft hier bleiben, könnte eine bestmögliche Integration sein (einen Ansatzpunkt bietet beispielsweise https://www.abendblatt.de/wirtschaft/article216003483/Tausende-Auslaendische-Fachkraefte-verlassen-Deutschland.html). Gleichzeitig sind auch finanziell wettbewerbsfähige Konditionen relevant. So bietet beispielsweise Dänemark besondere generelle Steuervergünstigungen für Forscher (im Sinne der OECD) und „besonders hoch bezahlte ausländische Mitarbeiter“ (diverse Kriterien): Sie haben die Möglichkeit, über verteilbare 60 Monate mit nur 31,92 Prozent des Einkommens besteuert zu werden (https://www.rechtdaenisch.de/unternehmen/steuerrecht/steuerverguenstigungen-forscher-daenemark/).

Auch könnte Deutschland verstärkt um ausländische Staatsangehörige werben, die an deutschen Hochschulen einen Abschluss machen. In einem ersten Schritt ist es wichtig, zu wissen, wie viele der ausländischen Studenten das Studium beenden und wie viele es abbrechen. Die weiterführende Frage, wie viele der ausländischen Studenten nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums in Deutschland bleiben, wird unterschiedlich beantwortet (OECD: 26 Prozent, IW: 44,3 Prozent, BAMF: 54, 5 Prozent) – wobei sich der DAAD in einer Analyse der verschiedenen Meinungen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) anschließt, wonach etwa die Hälfte aller ausländi-schen Studenten zunächst in Deutschland verbleibt (vgl. dazu https://static.daad.de/media/daad_de/pdfs_nicht_barrierefrei/der-daad/analysen-studien/verbleib_ausl%C%A4ndischer_studierender_und_absolventen_in_deutschland_blickpunkt.pdf, S. 4 ff.). Die meisten planen mittel- bis langfristig in Deutschland zu bleiben – und tun es auch tatsächlich (vgl. https://static.daad.de/media/daad_de/pdfs_nicht_barrierefrei/der-daad/analysen-studien/verbleib_ausl%C3%A4ndischer_studierender_und_absolventen_in_deutschland_grafiken.pdf, S. 13: „Weniger als 10 Prozent wollen weniger als 5 Jahre bleiben.“). Allein diese Zahlen verdeutlichen das grundsätzliche Potential dieser Gruppe.In diesem Zusammenhang besteht jedoch weitere Unklarheit darüber, wie hoch der Anteil der fremdsprachigen Studiengänge an deutschen Hochschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Studiengänge ist (vgl. https://www.tagesspiegel.de/wissen/internationalisierung-der-hochschulen-deutsche-unis-zoegern-bei-englischsprachigen-angeboten/24085102.html). In den Niederlanden beispielsweise studieren 21 Prozent der Bachelorstudierenden und 70 Prozent der Masterstudierenden auf Englisch (ebd.).

Jenseits der Bedeutung von hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern für die Forschung ist dies auch für den Arbeitsmarkt essenziell. So vermeldet beispielsweise der halbjährlich erscheinende MINT-Report vom Frühjahr 2021, dass die MINT-Expertenberufe die größte Engpassgruppe ist (vgl. https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Gutachten/PDF/2021/MINT-Fr%C3%BChjahrsreport_2021_finale_Fassung_27_05_2021.pdf, S. 5 f.) und innerhalb dieser Gruppe die Gruppe der IT-Experten diejenige mit den drastischsten Entwicklungen und mit großem Zukunftsbedarf ist (S. 60 ff.)Die Herausforderung wird überdies dadurch verstärkt, dass in den kommenden zehn Jahren der jährliche demografische Ersatzbedarf an MINT-Akademikern um 13.000 auf 75.200 zunehmen wird und damit bereits zwei Drittel der künftigen Absolventinnen und Absolventen nur dafür benötigt wer-den, diesen Ersatzbedarf zu decken und nicht für weiteres Wachstum zur Verfügung stehen (S. 10). Ein solches wird aber benötigt: Laut der Future-Skills-Studie des Stifterverbands von 2018 besteht bis 2023 ein Bedarf von etwa 700 000 Tech-Spezialistinnen und Tech-Spezialisten – davon 455.000 Menschen mit der Fähigkeit der komplexen Datenanalyse (vgl. https://www.stifterverband.org/medien/future-skills-welche-kompetenzen-in-deutschland-fehlen, S. 6 f.). Auch aus dem MINT-Report vom Frühjahr 2021 geht hervor, dass der Bedarf nach IT-Expertinnen und IT-Experten zukünftig deutlich steigen wird (S. 9 f., 21 ff.).

->Quellen: