Netto-Null-Ziel erfordert schnelle Investitionen

ETZ-Studie: Europa muss 302 Milliarden Euro in klimarelevante Infrastrukturen investieren, um Klimaziel zu erreichen

Sowohl die Europäische Union als auch die Schweiz haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden und ihre Treibhausgasemissionen auf Netto-Null zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, sind große Investitionen in die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, die Stromnetze, Speicherkapazitäten und andere klimarelevante Infrastrukturen erforderlich. Wie hoch diese aber in den nächsten 15 Jahren ausfallen müssen und welche Bereiche dabei am wichtigsten sind, war bis jetzt unklar. Christoph Elhardt geht in einem Beitrag für die ETH-Zürich der Frage nach.

‚No CO2 – Montage © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Diese Lücke füllt nun eine Meta-Studie der ETH-Professoren Bjarne Steffen und Lena Klaaßen, die kürzlich in Nature Climate Change erschienen ist. Die Autoren kommen zu dem Schluss: Wenn in den nächsten zwei Jahren nicht jährlich 302 Milliarden Euro in klimarelevante Infrastrukturen in Europa fließen, ist das Netto-Null-Ziel gefährdet.

Ein Drittel mehr Investitionen nötig

„Im Vergleich zu den letzten Jahren müssen die Investitionen in grüne Infrastrukturen pro Jahr um 87 Milliarden steigen und das so schnell wie möglich. Das ist über ein Drittel mehr als bisher“, erklärt Erstautorin Klaaßen, die an der Professur für Klimafinanzierung der ETH Zürich promoviert. Angesichts der Größe der europäischen Aktien- und Anleihemärkte sei das Geld dafür vorhanden. Die Herausforderung bestehe aber vor allem darin, die nötigen politischen Weichen schnell genug zu stellen, damit das Kapital in die richtigen Projekte fließen könne.

Die ETH-Forschenden untersuchten 56 Technologie- und Investmentstudien aus der Wissenschaft, der Industrie und dem öffentlichen Sektor. Sie konzentrierten sich dabei auf die Staaten der EU, berücksichtigen aber auch Daten zum Vereinigten Königreich, zu Norwegen und zur Schweiz. Die gesamteuropäischen Trends sind daher auch für die Schweiz relevant.

Drei Bereiche sind besonders relevant

Am deutlichsten steigt der Investitionsbedarf bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. „Um die Entkarbonisierung aller Lebensbereiche voranzutreiben, müssen in den nächsten Jahren jährlich rund 75 Milliarden in Solar- und Windkraftanlagen fließen. Das sind 24 Milliarden mehr pro Jahr als in der jüngeren Vergangenheit“, sagt Co-Autor Bjarne Steffen.

Ähnlich sehe es beim Ausbau der Verteilnetze und der Eisenbahn aus: Auch in diese Bereiche müssten, verglichen mit dem Zeitraum 2016 bis 2020, 40 – 60 Prozent mehr Mittel fließen, damit die Elektrifizierung und die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene ausgeweitet werden können.

Ukrainekrieg verstärkt Trends

Den Autoren zufolge verstärkt der Krieg in der Ukraine diese Trends zusätzlich: „Um möglichst wenig Gas aus Russland zu importieren, müsste Europa rund 10 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich in die Solarenergie und die Windkraft investieren. Im Vergleich dazu ist der Investitionsbedarf für zusätzliche Erdgasinfrastruktur wie LNG-Terminals mit rund 1,5 Milliarden pro Jahr deutlich geringer“, so Steffen.

Laut der ETH-Studie sollten fossile Energieträger wie Kohle, Öl- und Gas in Europa in Zukunft weniger Kapital binden. Sie weisen insbesondere darauf hin, dass der Investitionsbedarf in konventionelle Kraftwerke innerhalb weniger Jahre um 70% sinken werde.

Vorsicht!
Analysen zeigen, dass „Net Zero 2050“-Strategien viele Jahrzehnte der unnötigen Nutzung fossiler Brennstoffe bis weit über 2050 hinaus festschreiben werden, mit einem nicht nachhaltigen Wirtschaftspfad, gefährlichen „Ausgleichs“-Kompromissen und inakzeptablen Risiken einer unaufhaltsamen Klimaerwärmung, schreiben David Spratt und Ian Dunlop vom National Centre for Climate Restoration (Breakthrough), einer unabhängigen australischen Denkfabrik, im August 2021. Mit ihren Thesen haben sie sich bereits im April 2021 zu Wort gemeldet (Siehe: solarify.eu/co2-budget-eine-schimaere): „Wir sind zu der schmerzlichen Erkenntnis gelangt, dass die Idee von Netto-Null einen rücksichtslosen, leichtfertigen ‚Jetzt verbrennen, später bezahlen‘-Ansatz zugelassen hat, der dazu geführt hat, dass die Kohlenstoffemissionen weiter in die Höhe geschossen sind… Es ist an der Zeit, unsere Ängste zu äußern und der Gesellschaft gegenüber ehrlich zu sein. Die derzeitige Netto-Null-Politik wird die Erwärmung nicht auf 1,5°C begrenzen, weil sie nie dazu gedacht war. Sie wurden und werden immer noch von der Notwendigkeit angetrieben, den Fortbestand der Wirtschaft zu schützen, nicht das Klima. Wenn wir die Menschen schützen wollen, müssen wir die Kohlenstoffemissionen jetzt in großem Umfang und nachhaltig reduzieren. (James Dyke, Robert Watson und Wolfgang Knorr, „Klimawissenschaftler: Das Konzept von Netto-Null ist eine gefährliche Falle“. in: The Conversation, 22.04.2021)

Regulierung auf unterschiedliche Bereiche zuschneiden

Was kann die Politik tun, damit schnell mehr Kapital für den Ausbau grüner Infrastrukturen zur Verfügung steht? „Politische Maßnahmen sollten auf die Finanzierung in jenen Sektoren zugeschnitten sein, wo der größte Investitionsbedarf besteht“, erklärt Klaaßen. Dies sei heute nicht selbstverständlich: So konzentrierten sich bestehende Regulierungen in der EU auf die Identifikation nachhaltiger Wertpapiere, obwohl wichtige klimarelevante Infrastrukturen gar nicht über Aktienmärkte finanziert würden.

Der Ausbau erneuerbarer Energien werde hingegen oft durch private Investoren wie Pensionsfonds und Banken ermöglicht. Die öffentliche Hand sollte deren Risiko durch Erlösgarantien und durch möglichst rasche und berechenbare Bewilligungsverfahren minimieren. Zudem könnten öffentliche Investitionen in neue Technologien wie zum Beispiel die CO2-Speicherung dazu beitragen, dass sich auch private Investoren in diese Bereiche vorwagten, so Klaaßen abschließend.

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