Begrenzung der Erderwärmung „nicht plausibel“

Hamburg Climate Futures Outlook: 1,5-Grad-Grenze wird überschritten

Das 1,5-Grad-Ziel (besser: 1,5-Grad-Grenze) einzuhalten, sei nicht plausibel, heißt es in einem neuen Bericht, der zweiten Ausgabe des Hamburg Climate Futures Outlook. „Wir werden mit einer größeren Erderwärmung rechnen müssen“, sagt Klimatologe Jochem Marotzke, einer von 63 daran beteiligten Forschenden aus unterschiedlichsten Disziplinen in der neuen zentralen Studie des Exzellenzclusters Climate, Climatic Change, and Society (CLICCS) der Universität Hamburg.

Die 1,5-Grad-Grenze – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Der Outlook soll die Plausibilität bestimmter, genau definierter Szenarien von Klimazukünften systematisch analysieren und bewerten – auf Basis aktueller Erkenntnisse über soziale Treiber und physikalische Prozesse. Er untersucht, wie plausibel die Klimazukünfte sind, die im Pariser Abkommen von 2015 vorgesehen sind, nämlich die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen und – wenn möglich, auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau („Holding the increase in the global average temperature to well below 2 °C above pre-industrial levels and pursuing efforts to limit the temperature increase to 1.5 °C above pre-industrial levels, recognizing that this would significantly reduce the risks and impacts of climate change;“ – UNFCCC 2015, Artikel 2 Absatz 1a). Die Weltgemeinschaft muss bis 2050 eine vollständige Dekarbonisierung erreichen, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. „Daher arbeiten wir mit einem Zukunftsszenario, das Emissions- und Temperaturziele miteinander kombiniert,“ so der Outlook.

Gesellschaftlicher Wandel wichtiger als physikalische Kipppunkte

Klimapolitik, Proteste, Ukraine-Krise: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prüften systematisch, inwieweit gesellschaftliche Veränderungen auf dem Weg sind – kombiniert mit einer Analyse physikalischer Prozesse, die als Kipppunkte diskutiert werden. Fazit: Entscheidend für das Einhalten der Temperaturgrenzen von Paris ist der soziale Wandel. Bisher ist der jedoch unzureichend. Vor diesem Hintergrund muss auch Klimaanpassung anders aufgestellt werden.

Hauptaussagen in Kürze

Die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klimaabkommens von 2015 kann realistischerweise nicht eingehalten werden. Eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius kann sich als plausibel erweisen, wenn die Ambitionen deutlich erhöht, Maßnahmen konsequent umgesetzt und Wissenslücken geschlossen werden.

  • Keiner der zehn untersuchten gesellschaftlichen Treiber unterstützt eine umfassende Dekarbonisierung bis 2050. Die Treiber Unternehmensstrategien und Konsumverhalten verhindern nach wie vor Fortschritte in Richtung Dekarbonisierung, ganz zu schweigen in Richtung umfassender Dekarbonisierung.
  • Die physikalischen Prozesse Auftauen des Permafrosts, Instabilität der atlantischen Umwälzpumpe (AMOC) und Absterben des Amazonaswaldes stehen den Temperaturzielen des Pariser Klimaabkommens leicht entgegen.
  • Die Bewertung der gesellschaftlichen Treiber zeigt, dass die Handlungsmacht der Gesellschaft maßgeblich Einfluss darauf hat, wie sich Klimazukünfte entwickeln.
  • Gleichzeitig ist diese Handlungsmacht geprägt von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit. Diese stehen einer umfassenden Dekarbonisierung bis 2050 im Weg.
  • CLICCS legt grundlegende Prinzipien für die Bewertung von nachhaltigen Anpassungsstrategien vor.

„Verknüpfung  aktuell einzigartig“ (Aus der Medienmitteilung)

Die Verknüpfung von gesellschaftswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Analyse in einer integrierten Studie ist aktuell einzigartig. In einem interdisziplinären Team haben die Forschenden zehn gesellschaftliche Treiber untersucht. „Tatsächlich kommt in Sachen Klimaschutz einiges in Bewegung. Schaut man sich die Entwicklung der sozialen Prozesse aber im Detail an, ist es nach wie vor nicht plausibel, dass die globale Erwärmung unter 1,5 Grad gehalten werden kann“, sagt CLICCS-Sprecherin Prof. Dr. Anita Engels. Vor allem Konsumverhalten und das Verhalten von Unternehmen bremsen laut dem „Hamburg Climate Futures Outlook 2023“ weltweit den dringend notwendigen Klimaschutz. Andere Schlüsselfaktoren wie die UN-Klimapolitik, Gesetzgebung, Klimaproteste oder ein Abzug von Investitionen aus der fossilen Wirtschaft unterstützen die Klimaziele. Wie die Analyse zeigt, reicht ihre Dynamik aber für das 1,5-Grad-Limit nicht aus. „Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verläuft einfach zu langsam“, sagt Sozialwissenschaftlerin Engels.

Darüber hinaus wurden physikalische Prozesse geprüft, die als Kipppunkte diskutiert werden. Der Verlust des Arktis-Meereises, das Schmelzen der Eisschilde und die regionalen Klimaänderungen sind demnach zwar gravierend. Auf die globale mittlere Temperatur bis 2050 haben sie aber kaum Einfluss. Eher sind hier das Tauen des Permafrosts, die geschwächte Umwälzpumpe im Atlantik (AMOC) und das Regenwaldsterben im Amazonas von Bedeutung – wenn auch nur moderat. „Fakt ist: Die gefürchteten Kipppunkte könnten die Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde drastisch verändern – für das Erreichen der Pariser Klimaziele sind sie aber zunächst ohne Belang“, sagt CLICCS-Co-Sprecher Prof. Dr. Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie.

Auch COVID-19 und der russische Einmarsch in die Ukraine sind Thema der Studie: Staatliche Investitionen, um die Folgen abzumildern, haben in beiden Fällen die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verfestigt, was eine Abkehr von fossilen Energien weniger plausibel macht als bisher angenommen. Ob die Sicherung der europäischen Energieversorgung und die Bemühungen der Weltgemeinschaft, unabhängig von Gas aus Russland zu werden, die Abkehr von fossilen Brennstoffen unterminiert oder beschleunigt, ist dagegen noch offen.

Handlungsmacht der Gesellschaft, Anpassung neu aufstellen

Die größte Chance auf eine positive Klimazukunft liegt demnach in der Handlungsmacht der Gesellschaft. Der Outlook zeigt dazu eine Reihe von Bedingungen auf, etwa dass sich transnationale Initiativen und nicht-staatliche Akteure für den Klimaschutz engagieren und Proteste den Druck auf die Politik aufrechterhalten.

„Die Frage, was nicht nur theoretisch möglich, sondern auch plausibel – also realistisch zu erwarten – ist, liefert neue Ansatzpunkte“, erläutert Sprecherin Anita Engels. „Verfehlen wir die Klimaziele, wird es umso wichtiger, sich an die Folgen anzupassen.“ Im Hamburg Climate Futures Outlook wird dazu ein neues Werkzeug vorgestellt, mit dem sich Maßnahmen auf ihre langfristige Wirkung prüfen lassen. „Um für eine wärmere Welt gerüstet zu sein, müssen wir Änderungen vorwegnehmen, Betroffene einbeziehen und lokales Wissen nutzen. Statt nur zu reagieren, gilt es schon jetzt, aktiv zu transformieren“, so Engels.

Über den Hamburg Climate Futures Outlook
Der „Hamburg Climate Futures Outlook“ erscheint jährlich. Er analysiert physikalische und gesellschaftliche Dynamiken und prüft, welche Klimazukünfte nicht nur möglich, sondern auch plausibel sind.
63 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Exzellenzcluster CLICCS sind als Autorinnen und Autoren beteiligt. Sie stammen aus unterschiedlichen Disziplinen der Naturwissenschaften und der Sozialwissenschaften sowie aus Ökonomie und Rechtswissenschaft. Sie haben zehn gesellschaftliche Treiber und sechs physikalische Prozesse bewertet. Rund 20 nationale und internationale Reviewer haben ihre Arbeit begutachtet.
Der Exzellenzcluster „Climate, Climatic Change, and Society“ (CLICCS) der Universität Hamburg wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Er ist am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg angesiedelt und arbeitet mit elf Partnerinstituten eng zusammen, darunter das Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, das Helmholtz Zentrum Hereon und das Deutsche Klimarechenzentrum.

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