1,5 Grad gesellschaftlich nicht drin

6. Synthesebericht des Weltklimarats IPCC

Am 01.02.2023 titelte Björn Lohmann auf web.de: „Klimakrise: Physikalisch wären 1,5 Grad noch drin – gesellschaftlich nicht“. Das Tauziehen um den Synthesebericht zu den jüngsten Erkenntnissen des Weltklimarats (Sixth Assessment Report – AR6-Synthesebericht) hatte sich länger hingezogen als erwartet. Seit 35 Jahren schon warnte der Weltklimarat (IPCC) vor den Folgen der Erderhitzung. Die Appelle der Forschenden werden immer dringlicher, die Forderung nach drastischen Maßnahmen steigt: Denn je länger wir warten, umso gravierender werden auch die auf der ganzen Welt ausgelösten Krisen ausfallen.

58. IPCC-Sitzung Interlaken – Screenshot © youtube.com

Klimawandel schreitet schneller als erwartet voran

Acht Jahre lang haben Hunderte Klimaforscherinnen und Klimaforscher am Bericht zum Stand der wissenschaftlichen Forschung zur Klimakrise des Weltklimarats IPCC gearbeitet. Darin haben sie die wichtigste Forschung zum Klimawandel bewertet, sie in langen Konferenzen mit der Politik diskutiert und gegen politische Einflüsse verteidigt. Am 20.03.2023 wurde in Interlaken der nächste von mittlerweile mehr als 40 Bänden der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Klimaökonom Ottmar Edenhofer und die Entwicklungsgeografin Lisa Schipper waren in unterschiedlichen Rollen an IPCC-Berichten beteiligt. Beide sagen: Der Weltklimarat hat viel bewirkt.

Die Kernaussagen des neuen IPCC-Berichts sind klar: der Klimawandel schreitet rascher voran als erwartet und die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen reichen bei Weitem nicht aus, um eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 oder zumindest auf weniger als 2 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu erreichen. Marotzke hat an mehreren Berichten des Weltklimarats mitgewirkt, ist aber an dieser Zusammenfassung für Politiker nicht beteiligt:

  • Die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger (SPM) des Syntheseberichts wurde am 19.03.2023 in der Schweiz verabschiedet.
  • Der 6. Synthesebericht (AR6) schließt den etwa achtjährigen Bewertungszyklus des IPCC ab mit dem bahnbrechenden 1,5-Grad-Bericht von 2018, den beiden Sonderberichten über Land und Klima sowie Ozeane und Kryosphäre in 2019 und den drei regulären IPCC-Arbeitsgruppenberichten über die physikalische Wissenschaft, Anpassung und Auswirkungen (2021) und Minderung (2022).
  • Dies wird das letzte Mal sein, dass die Welt vom IPCC in dieser Funktion für mehrere Jahre hört. Das nächste Mal könnten die Berichte um den AR7-Zyklus 2027, 2028 oder später veröffentlicht werden.
  • Die 1,5-Grad als Grenze wird nicht infrage gestellt und bleibt damit ein wichtiges Merkmal in der Klimakrise.
  • Die meisten der bewerteten Emissionsreduktionspfade gehen von einer Überschreitung der 1,5-Grad-Marke aus und setzen auf die gefährliche, risikoreiche und unbewiesene Beseitigung des Kohlendioxids wie auf stetiges Wachstum, statt auf den erforderlichen tiefgreifenden und systemischen Wandel. Zudem spielen fossile Brennstoffe noch bis 2050 in den Szenarien eine Rolle.
  • Wie Deutschland gerade die 1,5-Grad-Grenze überschreitet: siehe unten IPCC Briefing Handout von BUND, Heinrich Böll Stiftung und Misereor.

IPCC-Leitautor: „Die E-Fuels-Debatte zeigt, die Politik hört der Wissenschaft nicht zu“

Im neuen IPCC-Abschlussbericht werden viele Empfehlungen der WissenschaftlerInnen werden ignoriert, was sich besonders deutlich in der aktuellen E-Fuels-Debatte zeigt. Worauf kommt es jetzt an? Der deutsche Physiker Felix Creutzig ist einer der koordinierenden Leitautoren der dritten IPCC-Arbeitsgruppe und hat denam 20.03.2023 erschienenen Abschlussbericht kommentiert. Warum kommen die Warnungen des Weltklimarats nicht in der Politik an? Wer blockiert Klimaschutzmaßnahmen? Ist das 1,5-Grad-Ziel tatsächlich außer Reichweite?

Laut Creutzig hat der IPCC-Bericht „auf jeden Fall eine Wirkung auf die Politik und ist Grundlage zahlreicher Diskussionen. Es gibt in Deutschland auch in den Parteien und in den Ministerien die Bereitschaft, sich mit dem Bericht auseinanderzusetzen. Allerdings bleibt diese relativ oberflächlich. Das ist problematisch.“ (riffreporter.de/de/umwelt/weltklimabericht-klimakrise-klimapolitik-verkehrswende-verkehr-ipcc-efuels)

Klimaexperte Karsten Smid von Greenpeace sieht in dem Bericht bestätigt, dass  die Energiesysteme schnellstmöglich zu modernisieren sind und damit Kohle, Öl und Gas aufgegeben werden müssen: „Hitze, Dürre, Starkregen und immer bedrohlichere Extremwetterlagen –  der IPCC-Bericht führt uns die Klimakrise schockierend genau und faktenreich vor Augen. Die Erde erwärmt sich schneller als erwartet, die Folgen sind einschneidender als befürchtet und das Schlimmste wird erst noch kommen. Jetzt zählt jeder Tag, um die Lösungen durch den systematischen Umbau der Energiesysteme im privaten und industriellen Bereich voranzubringen. Die kommenden Jahre bis 2030 sind entscheidend, damit die 1,5 Grad-Grenze noch in Reichweite gehalten werden kann. Für den deutschen Beitrag zum Klimaschutz muss die Ampelregierung ihr lähmendes Hickhack um E-Fuels, Tempolimit und LNG-Überkapazitäten endlich beenden. Wer sich jetzt noch einer kompletten Umstellung auf erneuerbare Energien und einem Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas entgegenstellt, ignoriert die eindringlichen Warnungen der Klimawissenschaft. Die deutsche Regierung muss jetzt dringend einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien umsetzen, einen Kohleausstieg bis spätestens 2030 auch in Ostdeutschland durchsetzen und keine weiteren Gasfelder erschließen.“

1,5-Grad-Grenze weiter nicht plausibel

„Die gefürchteten Kipppunkte könnten die Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde drastisch verändern – für das Erreichen der Pariser Klimaziele sind sie aber zunächst ohne Belang“, ordnet Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, die Ergebnisse zu den physikalischen Faktoren ein. Mit Blick auf die gesamte Studie resümiert CLICCS-Sprecherin Anita Engels: „Tatsächlich kommt in Sachen Klimaschutz einiges in Bewegung. Schaut man sich die Entwicklung der sozialen Prozesse aber im Detail an, ist es nach wie vor nicht plausibel, dass die globale Erwärmung unter 1,5 Grad gehalten werden kann.“ Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verlaufe einfach zu langsam. „Die Weichen müssen in diesem Jahrzehnt gestellt werden.“ Oder mit der Antwort Marotzkes auf die Frage, ob wir das 1,5-Grad-Ziel verpasst haben: „Ja. Weitermachen.“

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