Wildschwein-Paradoxon – endlich gelöst

Relativ hohe Radioaktivitätswerte haben einen Grund

Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist Wildschweinfleisch immer noch verblüffend stark radioaktiv. Des Rätsels Lösung: Man hatte eine wichtige andere Ursache übersehen, teilt die Technische Universität Wien am auf ihrer Internetseite und in Environmental Science & Technology (open access) mit.

Wildschwein – Foto © Max Saeling auf Unsplash

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 hatte auch in Mitteleuropa große Auswirkungen auf das Ökosystem Wald. Vom Verzehr von Pilzen wurde damals wegen der hohen radioaktiven Belastung abgeraten, auch das Fleisch von Wildtieren war einige Jahre lang stark betroffen. Während die Belastung von Hirschen und Rehen im Lauf der Zeit wie erwartet zurückging, änderten sich die Werte beim Fleisch von Wildschweinen aber überraschend langsam. Noch immer werden deutliche Grenzwertüberschreitungen gemessen. Bis heute galt dieses „Wildschwein-Paradoxon“ als ungelöst – nun konnte durch aufwändige Messungen der TU Wien und der Leibniz Universität Hannover aber eine Erklärung gefunden werden: Es handelt sich um eine Spätwirkung der Atomwaffentests in den 1960er-Jahren.

Mehr Strahlung als die Physik erlaubt?

„Entscheidend für die Radioaktivität der Proben ist Cäsium-137, mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren“, sagt Prof. Georg Steinhauser von der TU Wien. „Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.“ Die Strahlenbelastung von Lebensmitteln geht aber normalerweise viel schneller zurück. Schließlich hat sich das Cäsium seit Tschernobyl verteilt, wurde vom Wasser ausgewaschen, in Mineralien gebunden oder vielleicht tief in den Boden verfrachtet, sodass es von Pflanzen und Tieren nicht mehr in derselben Menge aufgenommen wird wie direkt nach dem Reaktorunglück. Die meisten Lebensmittelproben weisen daher nach Ablauf einer Halbwertszeit nicht einfach die Hälfte der ursprünglichen Aktivität auf, sondern deutlich weniger.

Bei Wildschweinfleisch ist die Sache aber anders: Da blieb die Strahlenbelastung beinahe konstant – sie geht deutlich langsamer zurück, als man das alleine schon durch den natürlichen radioaktiven Zerfall von Cäsium erwarten würde – ein aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick völlig widersinniges Ergebnis.

Bis heute werden in ganz Europa Wildschweinfleisch-Proben gemessen, die für den Verzehr nicht geeignet sind, weil ihre Strahlenbelastung den erlaubten Grenzwert deutlich überschreitet. Das mag mitunter auch dazu führen, dass Wildschweine in manchen Gegenden kaum gejagt werden und oft große Schäden für Land- und Forstwirtschaft verursachen.

Auf der Suche nach dem Cäsium-Fingerabdruck

Steinhauser, der 2022 von der Leibniz Universität Hannover an die TU Wien wechselte, ging mit seinem Team diesem Rätsel auf den Grund: Durch neue, präzisere Messungen wollte man nicht nur die Menge sondern auch die Herkunft der Radioaktivität ermitteln.

„Das ist möglich, weil unterschiedliche Quellen radioaktiver Isotope jeweils einen unterschiedlichen physikalischen Fingerabdruck haben“, erklärt Dr. Bin Feng, der am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und dem TRIGA Center Atominstitut der TU Wien forscht. „So wird etwa nicht nur Cäsium-137 freigesetzt, sondern gleichzeitig auch Cäsium-135, ein Cäsium-Isotop mit deutlich längerer Halbwertszeit.“ Das Mischungsverhältnis der beiden Cäsium-Sorten ist nicht immer gleich – es war etwa bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anders als bei den Atomwaffentests der 1960er-Jahre. Wenn man dieses Verhältnis misst, kann man somit Information über die Herkunft des radioaktiven Materials erhalten.

Cäsium-135 genau zu quantifizieren, ist aber sehr schwer. „Weil es eine so lange Halbwertszeit hat und nur selten zerfällt, kann man es nicht einfach mit Strahlenmessgeräten detektieren“, sagt Steinhauser. „Man muss mit Methoden der Massenspektrometrie arbeiten und relativ großen Aufwand treiben, um es präzise von anderen Atomen zu unterscheiden. Das ist uns nun gelungen.“

Dabei zeigte sich: Während insgesamt rund 90% des Cäsiums-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, ist der Anteil in den Wildschweinproben viel geringer. Stattdessen ist ein großer Teil des Cäsiums im Wildschweinfleisch auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei manchen Proben bis zu 68%.

Die Hirschtrüffel ist (wahrscheinlich) schuld

Die Ursache dafür liegt an den ganz speziellen Nahrungsvorlieben der Wildschweine: Sie graben nämlich besonders gerne Hirschtrüffeln aus dem Boden aus, und in diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichert sich das radioaktive Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung an. „Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, so Steinhauser. Die Hirschtrüffeln, die in 20-40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen.“

Bei nuklearen Unfällen oder Explosionen freigesetzte Radionuklide stellen eine langfristige Bedrohung für die Gesundheit von Ökosystemen dar. Ein bekanntes Beispiel ist die Kontamination von Wildschweinen in Mitteleuropa, die für ihre anhaltend hohen 137Cs-Werte berüchtigt ist. Ohne eine zuverlässige Identifizierung der Quelle ist der Ursprung dieses Jahrzehnte alten Problems jedoch ungewiss. Hier untersuchen wir die Radiocäsiumkontamination von Wildschweinen in Bayern. Unsere Proben (2019-2021) weisen Werte zwischen 370 und 15.000 Bq/kg 137Cs auf und überschreiten damit die gesetzlichen Grenzwerte (600 Bq/kg) um das bis zu 25fache. Anhand eines neuen nuklearforensischen Fingerabdrucks, 135Cs/137Cs, konnten wir verschiedene Radiocäsiumquellen in ihrer Zusammensetzung unterscheiden. Alle Proben weisen Anzeichen für eine Vermischung von Tschernobyl- und Kernwaffenfallout auf, wobei die 135Cs/137Cs-Verhältnisse zwischen 0,67 und 1,97 liegen. Obwohl allgemein angenommen wird, dass Tschernobyl die Hauptquelle für 137Cs in Wildschweinen ist, stellen wir fest, dass „altes“ 137Cs aus Waffenfallout in den Proben, die den gesetzlichen Grenzwert überschritten haben, erheblich zum Gesamtgehalt beiträgt (10-68%). In einigen Fällen kann Waffen-137Cs allein zu einer Überschreitung des Grenzwerts führen, insbesondere bei Proben mit einem relativ niedrigen 137Cs-Gesamtgehalt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Überlagerung älterer und neuerer Hinterlassenschaften von 137Cs die Auswirkungen einer einzelnen, jedoch dominanten Quelle bei weitem übertreffen kann, und unterstreichen somit die kritische Rolle historischer Freisetzungen von 137Cs bei den aktuellen Herausforderungen der Umweltverschmutzung (Abstract von pubs.acs.org/acs.est.3c03565)

So ergibt sich ein kompliziertes Zusammenspiel unterschiedlicher Effekte: Sowohl das Cäsium der Atomwaffentests als auch das aus Tschernobyl breitet sich im Boden aus, die Trüffeln werden somit von zwei verschiedenen „Cäsium-Fronten“ erreicht, die nach und nach durch den Boden wandern. Andererseits zerfällt das Cäsium im Lauf der Jahre. „Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffeln – und in weiterer Folge der Schweine – größenordnungsmäßig relativ konstant bleibt“, sagt Georg Steinhauser.

Somit ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Belastung von Wildschweinfleisch in den nächsten Jahren deutlich sinkt, denn ein Teil des Cäsiums aus Tschernobyl wird erst jetzt in die Trüffeln eingelagert. „Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können“, sagt Steinhauser, „aber eben auch, dass man Antworten auf solche Rätsel finden kann, wenn man genau genug misst.“

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