Gefährliche Abhängigkeit

Europa im Erdölrausch

88 Millionen Fässer Erdöl werden weltweit täglich verbraucht. Das sind 44 Supertanker. Woher kommt das Öl? Wie hat es die europäische Geschichte in den letzten 150 Jahren beeinflusst? Und vor allem: Warum geht es uns jetzt aus?

Daniele Ganser, Peak-Oil-Experte und Friedensforscher, legt die erste Gesamtdarstellung zu Europas Erdöl-Abhängigkeit vor. Er schildert den Beginn der Erdölindustrie, das durch billige Energie angetriebene Wirtschaftswachstum, die Erdölkrisen der 1970er-Jahre und die Hintergründe des andauernden, blutigen Kampfs ums Erdöl bis hin zu den jüngsten Kriegen im Irak und in Libyen. Absoluten Neuigkeitswert hat Gansers Nachweis, dass beim konventionellen Erdöl weltweit bereits 2005 das Fördermaximum erreicht wurde. Für heiße Diskussionen werden auch seine Szenarien zur energiepolitischen Zukunft sorgen: Spitzt sich der globale Kampf ums Erdöl zu? Gelingt den Europäern die Wende hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien?

Leseprobe: Die Erdölgeschichte, welche 1859 mit der industriellen Förderung ihren Anfang genommen hatte, feierte im Jahre 2009 den 150. Jahrestag. In dieser relativ kurzen Zeit hat Erdöl nicht nur in Europa, sondern in allen Industrieländern zu einem fundamentalen Strukturwandel beigetragen und ist weltweit zum wichtigsten Energieträger aufgestiegen. Als Treibstoff für Millionen von Maschinen sorgt Erdöl heute für Mobilität, Wärme und Strom und dient als Rohmaterial für viele Produkte, darunter Plastik, Düngemittel und Farben. Durch den konstanten Zufluss billiger Energie ist der Erdölkonsum der globalisierten Industriegesellschaft stark angestiegen und hat viel zu unserem heutigen Reichtum in Europa beigetragen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges lag der globale Erdölverbrauch noch bei 6 Millionen Fass (à 159 Liter) pro Tag. Doch dann folgte in Europa und anderen Ländern der Welt ein Erdölrausch, wie man ihn in der Geschichte noch nie gesehen hatte, und der globale Tagesverbrauch kletterte bis ins Jahr 2012 auf 88 Millionen Fass, was 44 Supertankern entspricht.

Energie ist das Rückgrat jeglicher Existenz. Ohne Energie kann der Mensch nicht leben. Ohne Energie ist materielle Produktion unmöglich und ein Wirtschaftskreislauf undenkbar. Wir haben uns daran gewöhnt, dass billiges Erdöl in stets größeren Mengen zur Verfügung steht. Europa ist mit einem Tageskonsum von 15 Millionen Fass stark erdölsüchtig. Europa braucht mehr Erdöl als China, das täglich 9 Millionen Fass benötigt, aber eine mehr als doppelt so große Bevölkerung wie Europa zählt. Nur die USA übertreffen mit einem Tageskonsum von 20 Millionen Fass den Erdöldurst Europas, obschon die USA weniger Einwohner zählen als Europa. Doch nun geht uns das Erdöl aus. In Europa sind Großbritannien und Norwegen die wichtigsten Erdölfördernationen, aber in beiden Ländern wurde um das Jahr 2000 das Fördermaximum Peak Oil erreicht. Die Produktion bricht ein. Auch in den USA, dem einst größten Erdölförderland der Welt, wurde 1970 das Fördermaximum 22 erreicht. China konnte sich noch bis 1994 aus eigenen Erdölquellen selber versorgen, doch diese Zeiten sind längst vorbei. Viele Erdölfelder in China haben ihre besten Zeiten hinter sich; China tritt auf dem Weltmarkt als großer Nachfrager auf und steht dabei in direkter Konkurrenz zu Europa und den USA.

Die Zeit ist gekommen, dass wir in Europa fundamental über die Folgen unserer großen Erdölsucht nachdenken müssen. Denn nicht nur in Norwegen und Großbritannien geht die Erdölförderung zurück, auch Indonesien und Mexiko haben das Fördermaximum überschritten. Deutschland und Österreich waren einst bescheidene Erdölproduzenten, doch wie überall auf der Welt stieg die Förderung zuerst an, erreichte dann ein Fördermaximum und sank wieder ab. Darüber hat man sich wenig Gedanken gemacht, Europa hat die fehlenden Mengen stets aus dem Ausland kompensiert. Das tun auch China und die USA. Doch jetzt zeigen sich die globalen Knappheiten, das konventionelle Erdöl hat 2006 das Fördermaximum Peak Oil erreicht. Einen zweiten Planeten, aus dem wir die fehlenden Mengen importieren könnten, haben wir nicht.

Der Kampf um die Ressourcen spitzt sich zu. In den 1950er- und 1960-Jahren, als Erdöl im Überfluss vorhanden war, kostete das Fass Erdöl 2 Dollar. Energiepreise waren kein -ema, billige Energie schien vielen ein Geburtsrecht. Noch im Januar 1999 war das Fass Erdöl der Sorte Brent für 10 Dollar zu kaufen. Doch seither haben wir eine bisher völlig unbekannte Preisvolatilität kennengelernt. Der Erdölpreis stieg in nur einer Dekade um mehr als das Zehnfache und erreichte im Sommer 2008 ein Maximum bei 148 Dollar, brach dann in der Finanzkrise auf 40 Dollar ein, um bis im März 2012 wieder auf 120 Dollar anzusteigen. Nie zuvor hat die Welt derart hohe Erdölpreise erlebt. „Wir sind ganz klar im dritten Ölpreis-Schock“, erklärte Nobuo Tanaka, der Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA) im Juli 2008.

Die IEA hat die Aufgabe, die Industrieländer vor kommenden Erdölkrisen zu warnen. Anders als beim ersten und zweiten Ölpreis-Schock sei eine schnelle Besserung diesmal wenig wahrscheinlich, so die IEA. „1973 hat die OPEC die Erdölproduktion aus politischen Gründen gedrosselt“, so Tanaka, „und daraufhin sind die Preise stark angestiegen. Jetzt aber hat die starke globale Nachfrage die Krise ausgelöst, während die Produktion in vielen Erdölfeldern zurückgeht«, erklärte Tanaka besorgt. »Es handelt sich hier um ein strukturelles Problem, das sich nur noch zuspitzen wird“, eine schnelle Lösung sei nicht in Sicht. „Wir sind auf diese Situation nicht gut vorbereitet.“

Erscheinungsdatum: September 2012
Verlag Orell Füssli – 416 Seiten, broschiert – ISBN978-3-280-05474-1
->Quelle: ofv.ch