Berlin erhöht Druck auf Brüssel
Bewertung der Betriebssicherheit

Urteil des Experten: Verfahrenstechnische Bewertung des gegenwärtigen Status Quo der Betriebssicherheit der belgischen Kernkraftwerke Tihange und Doel

von Horst Gasper Dipl.-Ing., 74;  Verfahrenstechniker; er war überwiegend als Vertriebsingenieur für Fest/Flüssig-Filter tätig, möchte gerne seinem in Bonn lebendem Sohn die Doppelhaushälfte „unverstrahlt“ vererben.

Der Druckbehälter ist das sicherheitsmäßig kritischste Bauteil eines Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor: Die Abbildung zeigt den Ausschnitt eines typischen Druckbehälters, wie er bereits vor ca. 50 Jahren im amerikanischen Kernkraftwerk Shippingport eingesetzt wurde. Dieses Kernkraftwerk wurde 1982 nach 25-jähriger Betriebszeit abgeschaltet. Im Kernkraftwerk Tihange ist ein funktionell vergleichbarer Druckbehälter von ca. 4 m Durchmesser und 13 m Höhe mit einer Stahlguss – Mantelwanddicke von ca. 250 mm, einem Betriebsdruck von ca. 160 bar und einer Betriebstemperatur bis zu ca. 330° C in Betrieb.

Das Schnittbild des Druckbehälters zeigt die  sogenannten „Risse“ im Stahlgussmantel des Druckbehälters: In deutschsprachigen Medien wird allgemein in diesem Zusammenhang der eher irreführende Begriff „Risse“ zur Bezeichnung der fehlerhaften Stellen im Gefüge des Druckbehälter-Stahlgussmantels des Reaktors 2 von Tihange verwendet. Solche „Risse“ (1) liegen gemäß den Informationen des Betreibers Electrabel und der Atomaufsichtsbehörde FANC in dieser Form nicht vor.

Real handelt es sich nicht um Risse im landläufigen Sinne, sondern wie im Schnittbild in vereinfachter Form (2) grafisch dargestellt, teilweise um

  • sogenannte Flocken, die durch Wasserstoffbildung bei der Herstellung verursacht wurden, ring-, plättchen- oder
    flockenförmige Fehlerstellen, bzw. Hohlräume im Werkstoffgefüge (dies ist die bevorzugte Interpretation von Electrabel und FANC)
  • Seigerungen ( Werkstoffentmischungen, bevorzugte Deutung der vom Bundesumweltministerium beauftragten deutschsprachigen Werkstoff- und Reaktorsicherheitsexperten) sowie
  • Spannungsrisse (durch schnellere äußere Abkühlung des Gußstücks bei der Herstellung als innen).

Die unterschiedliche Deutung der Fehlerstellen ist jedoch nicht entscheidend, da alle diese Fehlerstellen eine Minderung der Festigkeitseigenschaften des Stahlmantels zur Folge haben und rechnerisch gleich betrachtet werden müssen. Viel bedeutsamer ist es, dass es Einschlüsse im Mantelinneren sind und keine Risse, die bis an die innere Oberfläche des Stahlmantels heranreichen. (Soweit jedenfalls die Darstellung von Betreiber und Atomaufsichtsbehörde.)

Aus diesem Grunde müssen es herstellungsbedingte Fehler sein, da der Druckbehälter mit „echten“ Rissen im landläufigen Sinn den extremen Druck-, Temperatur- und Strahlungsverhältnissen nicht lange standgehalten hätte – mit der unausweichlichen Folge eines sogenannten GAUs. Fakt ist, dass der Tihange-Druckbehälter 2 mit diesen Fehlern schon ca. 30 Betriebsjahre gehalten hat. Fakt ist aber auch, dass niemand in der Lage ist, mit beweisbarer Sicherheit vorauszusagen, wie lange er noch halten wird. Dies soll im folgenden begründet werden.

Verfahrenstechnische Bewertung im Hinblick auf den sicheren Weiterbetrieb des Reaktors

Die vom Betreiber Electrabel genannten „neuesten wissenschaftlichen Grundlagen“ für die Überprüfung der Reaktorsicherheit sind verfahrenstechnisch betrachtet unzureichend. Sie reichen nicht einmal aus, die Fehlerstellen eindeutig zu definieren. Die bisher mit der Frage des zulässigen weiteren Betriebs dieses Reaktors beschäftigten Spezialisten für Werkstoffkunde und Reaktorsicherheit beabsichtigen mit punktueller Bewertung bzw. Berechnung einzelner Faktoren die weitere Haltbarkeit des Druckbehälters nachzuweisen.

Solche Einfluss- bzw. Berechnungsgrößen sind z.B.

  • Momentane Beschaffenheit, Anzahl, Form, Größe und Lage der einzelnen Fehlerstellen
    Dies kann mit einer noch so leistungsfähigen Ultraschalldiagnose nicht ausreichend genau dargestellt werden. Wie wichtig z.B. auch die räumliche Anordnung der einzelnen Fehlerstellen ist, wurde eingangs anhand der Grafik gezeigt. Die Gesamtheit aller Fehlerstellen bildet im Stahlmantel des Druckbehälters eine Art „Netz“, dessen Einfluss auf die Stabilität des Druckbehälters weder theoretisch berechenbar noch prognostizierbar ist.
  • Eindeutiger (dokumentierter) Nachweis, dass sich die Fehlerstellen im Verlauf der bisherigen Betriebszeit nicht verändert haben
    Dabei muss berücksichtigt werden, dass Laboruntersuchungen nicht mit dem Originalwerkstoff des Druckbehälters durchgeführt werden konnten, sondern mit nachbestrahlten Mustern des gleichen Werkstoffs. Dies ergibt keine verwertbaren Resultate. Eine seriöse Materialprüfung kann erst nach Außerbetriebnahme des Reaktordruckbehälters erfolgen.
  • Es ist denkbar, dass der Reaktordruckbehälter unter den gegenwärtigen normalen betrieblichen Umständen noch ausreichend betriebssicher arbeitet
    Er hat es ja bis jetzt getan. Allerdings sind z.B. die wahrscheinlichen Folgen einer Betriebsstörung oder eines Unfalls etc. infolge des labilen Betriebszustands des Reaktors als erheblich riskanter zu bewerten, als bei Reaktoren, die diese Defekte nicht aufweisen.
  • Langzeitverhalten der Versprödung des Mantelwerkstoffs durch starke nukleare Strahlung
    Im vorliegenden Fall beträgt die Betriebsdauer bereits ca. 30 Jahre. Dies könnte bei weiterem Betrieb das Eindringen von Wasserstoff nicht vorhersehbar beeinflussen und damit die Wasserstoff-Flockenbildung unkalkulierbar beschleunigen.
  • Durch die bisherige Betriebszeit „aufgezehrter“ Anteil der ursprünglich bei Inbetriebnahme eingerechneten Sicherheitszuschläge für die Wandstärke des Druckbehälters und dessen dokumentierter, zeitlicher Verlauf
    Weitere Faktoren werden an dieser Stelle nicht weiter einzeln aufgeführt, weil das zum grundsätzlichen Verständnis der Situation nichts beiträgt.

Außerdem wirken einige Faktoren wechselseitig aufeinander ein und zwar so, dass die Wirkung zeitlich nicht vorherseh- und berechenbar ist.

[note Zusammenfassend ergibt sich daraus die Forderung, dass beim betrachteten Kernkraftwerk Tihange der Druckwasserreaktor 2 (von 3 in Tihange in Betrieb befindlichen) sofort abgeschaltet werden müsste, um die Sicherheit der belgischen, grenznahen niederländischen und deutschen Bevölkerung auf ein Niveau anzuheben, das zumindest den anderen Kernkraftwerken in der Region entspricht.
Was für den Druckwasserreaktor 2 von Tihange aufgeführt wurde, gilt in vergleichbarer Weise auch für den Druckwasserrektor 3 (von 4 in Betrieb befindlichen) des AKW Doel bei Antwerpen. Dort liegen ähnliche Verhältnisse vor.]

->Quellen: