ZDF-History: Das Tschernobyl-Vermächtnis

30 Jahre Super-GAU von Tschernobyl – 2x Atomkraft: Aufzeichnungen eines Beteiligten und aktuelles Risiko Atomkraft

Waleri Legassow, Leiter der Tschernobyl-Untersuchungskommission, nahm sich im Frühling 1988 das Leben. Vorher hatte er seine Erinnerungen und Erfahrungen auf Band gesprochen – „Das Tschernobyl-Vermächtnis“. Zwei Jahre zuvor, am 26.04.1986, geschah der  „größte anzunehmende Unfall“ der Geschichte, mehr noch – ein Super-GAU: Die Explosion im ukrainischen AKW Tschernobyl verseuchte riesige Landstriche; Hunderttausend mussten ihre Häuser für immer verlassen; über die Zahl der Toten wird seit 30 Jahren gestritten Aber auch aktuell leben wir unter einer permanenten nuklearen Bedrohung, die kaum jemand wahrnimmt: „Risiko Atomkraft – Pannenmeiler in Europa“.

In einer beeindruckenden Dokumentation von Tetyana und Alexander Detig in der Reihe „ZDF-History“ zeigt das Zweite Deutsche Fernsehen die Katastrophe von Tschernobyl aus Insider-Sicht. Aussagen aus Legassows Vermächtnis werden ergänzt durch Interviews mit Augenzeugen wie Alexey Breuss, der 1986 Ingenieur im Unglücksblock 4 war – seltene Einblicke in den innersten Kreis des sowjetischen Krisenmanagements. Selten oder nie gesehenes Filmmaterial aus ukrainischen Archiven, hochwertige Grafiken und szenische Rekonstruktionen machen die Ereignisse von damals wieder lebendig. Eine spannende, beeindruckende und beunruhigende Suche nach den wahren Gründen und Folgen der Katastrophe, die lange – teilweise bis heute – verschleiert wurden.

So kam das von den größten Hubschraubern der Welt, den MI 26, in mehr als 4.000 Einsätzen in den Reaktor geworfene Material, Sand und Blei, gar nicht im Reaktorkern an, wie man heute weiß – so Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, im O-Ton. Dafür wurden die Besatzungen, ebenso wie die sogenannten Liquidatoren, zwar allesamt „Helden der Sowjet-Union“, aber auch schwer verstrahlt – fast alle sind lange tot.

„Risiko Atomkraft – Pannenmeiler in Europa“

Das ZDF schlug mit einer weiteren Dokumentation in der Reihe „planet-e“ den Bogen in die Gegenwart – denn Gefahr droht auch gleich hinter unserer Grenze. Nicht nur Schweizer und belgische Atommeiler gelten als marode. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist – bei uns – beschlossene Sache. Bis 2022 sollen alle Atomkraftwerke abgeschaltet sein. Doch Deutschland ist damit allein auf weiter Flur. Unsere europäischen Nachbarn produzieren weiter kräftig Atomstrom. Sie betreiben auch noch nach Fukushima ihre teilweise völlig veralteten Meiler weiter. Und riskieren neue Katastrophen.

ZDF-Autor Hartmut Idzko war bei Recherchen über das Thema Kernkraft schnell auf besonders verschlossene Türen gestoßen. „Speziell als Fernsehjournalist fühlt man sich von den Pressestellen der Betreiberfirmen und Aufsichtsbehörden behandelt wie ein Wegelagerer, ein Bettler. Die Pressestellen leisten gute Presseverhinderungsarbeit. Sämtliche Anfragen um Drehgenehmigung wurden grundsätzlich abgelehnt. So geschehen in der Schweiz, in Frankreich und in Belgien. Und wehe, das Kamerateam stellt die Kamera außerhalb des Werksgeländes auch nur in der Nähe der riesigen Zäune und Mauern auf: Der Werkschutz ist schnell da und vertreibt mit zusätzlicher Hilfe der örtlichen Gendarmerie.“

Drehabsage wegen „heute Show“- Witz

In Belgien wurden auch sämtliche Interviewanfragen Idzkos abgewiesen. Besonders krass die Begründung der belgischen Atomaufsichtsbehörde, so der Autor: „Da die ‚heute show‘ des ZDF sich in einer Sendung über die Behörde lustig gemacht habe, werde man nicht mehr mit dem ZDF zusammenarbeiten – Pressefreiheit in Europa“. Die „heute show“ hatte humorvoll aufgespießt, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied des belgischen Kernkraftbetreibers „electrabel“ zum Chef der Atomaufsichtsbehörde, welche die Kernkraftwerke kontrollieren soll, gekürt wurde. Angesichts der Gefahr, die von den belgischen Kraftwerken wegen deren Altersschwäche ausgeht, ein handfester Skandal. Die Witze der „heute show“ waren dagegen „richtig nett“, so Idzko.

Zutritt zum Kraftwerk verboten, vom Zaun vertrieben, keine Interviews – doch wir brauchen Bilder. Also versuchten wir es aus großer Distanz mit einer kleinen Kameradrohne. In jedem Fotoladen erhältlich, liefern diese Dinger sendefähige Bilder. Die Drohne war gerade wieder sicher gelandet, als wir plötzlich von sechs Uniformierten eingekreist wurden. „Mitkommen, sie sind verhaftet“, so das harsche Kommando. Alle Erklärungsversuche, Pressedokumente, Ausweise scheiterten. Drohneneinsatz ist in Belgien verboten. Ganz schnell saßen wir in Einzelzellen der Polizeiwache. Nach vier Stunden durften wir wieder gehen. Keine weiteren Erklärungen. Nur die Kameradrohne ist futsch – sie wurde einbehalten als Beweisstück.“

Pressearbeit in der Ukraine

Idzko fügt an: „In der Ukraine werden ausländische Teams anders behandelt. (Dabei hat die „heute show“ auch schon viele Witze über das Land gerissen.) Dort durften wir im größten Atomkraftwerk Europas (Saporischschja, 5,7 GW in sechs Blöcken) drehen, was wir wollten, man gab freimütig Auskunft, beantwortete jede noch so kritische Frage. Und das Kraftwerk hat sehr viele Probleme. So geht Öffentlichkeitsarbeit auch – selbst im Hochsicherheitstrakt Kernkraftwerk.“

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