Buch: Überlebenswichtig

Nachhaltigkeit als bloße Rhetorik, gehaltlos, Phrase

  1. Boff diskutiert ausführlich und tiefschürfend viele auf dem Markt gehandelte Begriffe von Nachhaltigkeit – und verwirft fast alle. In den meisten Fällen sei – erstens – „nachhaltige Entwicklung“ nicht mehr als „bloße Rhetorik“. Denn „innerhalb des herrschenden Modells von Entwicklung, die nachhaltig sein will, ist die Rede von der Nachhaltigkeit gehaltlos und eine Phrase“. Alles was getan werde, geschehe unter Vorbehalt, dass „die Profite nicht gefährdet“ würden – im Grunde eine geschickte Art und Weise, die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abzulenken. Doch Boff sieht auch Fortschritte, wenn er Begriffe wie „Großherzigkeit“ und „Achtsamkeit“ als Nachhaltigkeitsattribute aufzählt – letztere hat er in einem eigenen Buch schon 2013 erläutert: „Achtsamkeit. Von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern“.
  2. Als zweites verwirft Boff den keynesianischen Neokapitalismus: „…keine Alternative, sondern lediglich die Fortschreibung des Fortschrittswahns“ – führende deutsche Theoretiker wie Flassbeck und Bofinger hätten dies offen erklärt. Boff schöpft aus einem anscheinend nicht versiegenden Zitatenquell: „Wir Nordamerikaner haben Geld ausgegeben, das wir nicht hatten, für Dinge, die wir nicht brauchten. Das Modell der Vereinigten Staaten ist falsch. Wenn die ganze Welt sich an diesem Modell orientiert, haben wir keine Überlebenschance mehr“, zitiert er Ken Rosen (Berkely University): 67 % des US-BIP stammen nicht aus eigener Produktion, sondern aus Importen, hauptsächlich aus China.
  3. Als dritte Spielart räumt er den „natürlichen“ Kapitalismus ab: Der sei zwar verführerisch, er spiele den Einklang mit der Natur vor, doch in Wahrheit sei die Natur hier nur Reservoir von Rohstoffen. Allerdings kritisiert Boff das hierhin gehörende Beispiel mit einem sehr verstaubten Beispiel von 1976 – da ist man heute weiter.Probleme der „Green Economy“
  4. Viertes Beispiel – zunächst möchte man es nicht glauben – ist die sogenannte Green Economy, der hierzulande Jahr für Jahr Konferenzen von Regierungsseite gewidmet werden. Boff nennt sie schlicht „eine Illusion“ – in Wirklichkeit ein neuer „hegemonialer Diskurs“ von UNO, einigen Regierungen und Unternehmen“. Boff liest in einem UNEP-Dokument von 2008 (Towards Green Economy) und im Abschlussdokument von Rio 20+ zwar hehre Ziele (z.B. CO2-Reduzierung durch Erneuerbare Energien) in Richtung einer Wirtschaft, die zur Verbesserung des Wohlstands und sozialer Gleichheit der Menschen führe und gleichzeitig Umweltrisiken und ökologische Knappheit spürbar verringere, also die Armut beseitige und das Kapital der Natur erhalte. Aber Aussagen über Mittel und notwendige Veränderungen von Makroökonomie und Gesellschaft vermisst Boff. Und er fragt: „Ist diese Initiative innerhalb des auf grenzenlosem Wachstum beruhenden herrschenden Systems zu verwirklichen?“ Nicht überraschend ist er skeptisch, denn Rio 20+ habe sich zwar im „Schlussdokument unter dem Titel Die Zukunft, die wir wollen die grüne Ökonomie ‚im Kontext der nachhaltigen Entwicklung, der Erhaltung der Umwelt und der Ausrottung der Armut‘ zu eigen gemacht. Die kritische Analyse des Textes zeigt jedoch, dass es sich hierbei um eine willkürliche Aneinanderreihung von bewegenden Absichtserklärungen handelt (wir billigen“, „wir unterstützen“, „wir wünschen“, „wir bekräftigen“ … ), die ohne jeden praktischen Nutzen sind, weil sie keine konkreten Vermittlungsschritte, Techniken und Geldmittel benennen, um diese guten Absichten in die Tat umzusetzen“.
    Allerdings verdammt Boff die Grüne Wirtschaft nicht völlig – er lässt einige gute Haare daran: LUCLUF (Land Use, Land-Use Change and Forestry) zum Beispiel, oder dass externen Faktoren (Ressourcen) wie Wasser, Böden, Luft, Nährstoffe – das Naturkapital (z.B. 15.500 Liter Wasser für die Produktion eines Kilos Rindfleisch) – ein ökonomischer Wert zugemessen werde. Boffs Schluss: „Die Wirtschaft muss in die Gesellschaft so eingebettet sein, wie ihrerseits diese in die Ethik“. Die grüne Wirtschaft sei nur dann „akzeptabel, wenn sie in ihrer Ausformulierung vertieft wird, sodass sie dann tatsächlich ein neues Paradigma für das Verhältnis zur Erde darstellt, in dem nicht die Ökonomie, sondern die Nachhaltigkeit des Planeten, des Systems Leben, der Menschheit und unserer Zivilisation bestimmend ist“. Die Green Economy löse zwei große Probleme nicht: Die Frage der Ungleichheit ebenso wenig wie das Problem der Aufrechterhaltung des Konsumniveaus der Reichsten. Denn zwingend notwendig sei „eine Reduktion des Konsums und eine Genügsamkeit in solidarischem Miteinanderteilen“. Kritisch geht Boff entsprechend auch mit dem Schlagwort vom „Green New Deal“ um, das er in Deutschland verortet; hier irrt er: der Begriff stammt aus den USA, später griff ihn die UNEP auf – nur die Heinrich-Böll-Stiftung samt Grünen nahm das Konzept auf. Was Boss fehlt, ist die Suffizienz – das Genug.
  5. Als fünftes und unzureichendes Konzept nimmt sich Boff den Ökosozialismus vor: Die Ökosozialisten wenden sich zwar gegen den „Green New Deal“, die suggerierte Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcen-, bzw. Energieverbrauch. Doch gehöre der zwar erwägenswerte Vorschlag einer nötigen Schrumpfung der Wirtschaft unter Beachtung von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit „immer noch dem alten Paradigma an, der die Einheit von Mensch, Erde und Kosmos nicht sieht und auch die Erde nicht als lebendigen Großorganismus betrachtet.“Positive Aspekte von Nachhaltigkeitsbegriffen: Bioökonomie, Solidarische Ökonomie, ‚erfülltes Leben‘ der andinen Völker
  6. -8. Drei Spielarten von Nachhaltigkeit betrachtet Boff in der weiteren Folge mit größerer Sympathie: Die Nummer 6: „Öko-Entwicklung oder Bio-Ökonomie“ als „mögliche Nachhaltigkeit“ – die Nummer 7: Solidarische Ökonomie“ als „lebbare Nachhaltigkeit im kleinen Maßstab“ und schließlich – Nummer 8 – „Das ‚erfüllte Leben‘ der andinen Völker“ als „die ersehnte Nachhaltigkeit, eine „Ethik der Genügsamkeit für die ganze Gemeinschaft und nicht nur für den Einzelnen“ – ähnlich dem Beispiel Bhutans mit seinem „Bruttoinlandsglück“.

Immer wieder zitiert Boff aus der Enzyklika Laudato Si‘ von Papst Franziskus: „Die Umwelt ist ein kollektives Gut, ein Erbe der gesamten Menschheit und eine Verantwortung für alle. Wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten. Wenn wir das nicht tun, belasten wir unser Gewissen damit, die Existenz der anderen zu leugnen.“

[note Leonardo Boff über Papst Franziskus und die Enzyklika Laudato Si‘, aus der er im Buch ausführlich zitiert: „Wir kennen uns. Er hat meine ganze Literatur gelesen und immer geschätzt. Er hat mich gefragt, ob ich ihm Materialien schicken könne. Er sagte auch: Schicken Sie mir das nicht direkt, das kommt nicht an. Es gibt Leute, die verhindern das. Schicken Sie es dem argentinischen Botschafter, der jeden Tag Mate mit mir trinkt, der übergibt mir das dann. Ich habe ihm tatsächlich viel Material geschickt. Dann habe ich gespürt, dass es sich nicht lohnt, lange Aufsätze zu schicken, aber dafür kleine Texte, die Grundbegriffe, die Perspektive. Und die wurden fast alle übernommen.“ (siehe taz vom 09.01.2017)]

Folgt: Illusion des Anthropozentrismus