Ein anderer Stadtverkehr ist möglich

Kommunen können Krisenerfahrung als Chance für Verkehrswende nutzen

Für Bund, Länder und Kommunen bietet sich aufgrund der Erfahrungen aus dem vergangenen halben Jahr die Gelegenheit, den Wandel hin zu einer krisenfesten und klimagerechten Mobilität zu beschleunigen. Das geht aus einer Studie hervor, die der Thinktank Agora Verkehrswende gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) und dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) erarbeitet hat. Untersucht wurden die Veränderungen im Stadtverkehr seit Beginn der Corona-Pandemie, die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen und der Handlungsbedarf bei Bund und Ländern.

Die Kooperationspartner rufen alle an der Verkehrswende Beteiligten auf, eine breit angelegte Reform- und Investitionsoffensive für nachhaltige Mobilität zu starten. Im Kern gehe es um die Neuaufteilung des öffentlichen Raums – mit mehr Platz für Fuß- und Radverkehr – und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs.

Zudem müsse den kommunalen Verwaltungen mehr Raum zum Experiment gegeben werden, damit innovative Lösungen erprobt und verstetigt werden könnten. Bund und Länder müssten schließlich die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Finanz- und Personalressourcen in den Kommunen erhöht werden könnten und die Verkehrswende schneller vorankomme.

Hochfeld: „Verkehrswende ist wichtiger denn je: für Klimaschutz und Gesundheitsvorsorge“

„Die Krisenerfahrung ist eine Chance, mit der Verkehrswende richtig durchzustarten“, sagt Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende. „Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und die drohende Zunahme des Autoverkehrs sind eine Gefahr für die Stadt als Lebens- und Wirtschaftsraum. Umso wichtiger ist es, jetzt schnell und entschlossen gegenzusteuern und dabei sowohl die Gesundheit als auch das Klima im Blick zu haben. Die Verkehrswende ist dafür wichtiger denn je. Denn sie schafft mehr Raum für Menschen, verbessert die Mobilitätsangebote und erhöht die Lebensqualität.“

Die Studie zeige, dass der Individualverkehr in den Städten zugenommen habe, sei es zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem Auto. Die Verkehrsaktivitäten hätten sich vorübergehend auf den Nachmittag und auf das nähere Wohnumfeld verlagert. Homeoffice und flexiblere Arbeitszeitmodelle könnten langfristig zu neuen Pendelroutinen führen. Die Bereitschaft, Gewohnheiten zu überdenken und digitale Angebote anzunehmen, sei gestiegen. Politik und Verwaltung hätten Entschlossenheit und Agilität bewiesen, indem sie Planungen vorzogen und Straßenflächen temporär umnutzten. Risiken sind laut Studie vor allem die Schwächung des ÖPNV und des Handels sowie der Rückgang der Steuereinnahmen der Kommunen.

Mehr Raum für lebenswerte Städte

Um die Verkehrsflächen neu aufzuteilen, müssten umweltfreundliche Angebote nicht nur gefördert, sondern auch der motorisierte Individualverkehr eingeschränkt werden. Zentral sei dafür die Umwidmung von Parkraum und Autospuren für Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr oder auch für Gastronomie und Handel. Weitere effektive Instrumente seien höhere Parkgebühren, Geschwindigkeitsbegrenzung und Verkehrsberuhigung. Bund und Länder sollten den Kommunen hier mehr Handlungsspielraum eröffnen und die rechtlichen Voraussetzungen anpassen, etwa durch Änderungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Straßenverkehrsordnung.

Hilmar , Beigeordneter für Verkehr im Deutschen Städtetag: „Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft müssen an einem Strang ziehen, um Erfolge für die Verkehrswende zu erzielen. Diese Erfolge müssen sich an drei Faktoren messen lassen: mehr Klimaschutz, wirksamerer Umweltschutz und bessere Lebensqualität für die Menschen in Städten und Regionen. Das müssen wir in Deutschland mit vollem Einsatz aller denkbaren Ressourcen hinbekommen, denn der Verkehr hat bislang diese Faktoren zu wenig berücksichtigt. Die Zeit wird knapp. Daher müssen jetzt alle Akteure handeln: schneller, wirksamer und gleichermaßen gerecht für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.“

ÖPNV als Rückgrat – auch für krisenfeste Mobilität

Der Handlungsbedarf im öffentlichen Verkehr hat sich laut Studie durch die Folgen der Pandemie deutlich verschärft. Verkehrsunternehmen müssten mehr investieren, um Hygienekonzepte umzusetzen, bei weniger Fahrgästen und dadurch weniger Einnahmen. Hinzu komme der ohnehin angestrebte und notwendige Ausbau des Angebots. Neben den aktuellen Sonderförderprogrammen müssten Bund und Länder über den bislang schon geleisteten Eigenanteil der Kommunen hinaus auch langfristig für eine solide Kofinanzierung aus Steuermitteln sorgen. Digitalisierung könne dazu beitragen, das System effizienter zu steuern und Dienstleistungen zu kombinieren.

Volker Deutsch, Fachbereichsleiter Integrierte Verkehrsplanung beim VDV: „Die Herausforderungen werden nach Corona die gleichen sein wie vorher, sobald sich die Pendler- und Verkehrsströme normalisieren. Deshalb muss weiter kontinuierlich an einer Politik der Mobilitätswende – mit mehr ÖPNV, Rad- und Fußverkehr – gearbeitet werden. Im ÖPNV bedarf es dazu einer Angebots- und einer Infrastrukturoffensive, die umgehend eingeleitet werden muss. Hierbei helfen zusätzliche Finanzierungswege. Neben den bereits verbesserten Fördermöglichkeiten bei der Schieneninfrastruktur bedarf es einer Digitalisierungsoffensive sowie der Förderung hochwertiger Bussysteme.“

Starke Verwaltung für Planung und Innovation

Eine positive Bilanz zieht die Studie für das Handeln der Kommunalverwaltungen in der Krise. Sie hätten an vielen Stellen schnell und entschlossen reagiert und Experimente gewagt, etwa bei der Einrichtung temporärer Radwege und Freischankflächen. Um darauf aufzubauen und die Verkehrswende langfristig schneller voranzubringen, müssten die Verwaltungen personell und finanziell besser ausgestattet werden. Neben zusätzlichen Mitteln aus Bund und Ländern müssten dafür auch Qualifizierungs- und Quereinsteigerprogramme aufgelegt werden. Schließlich müssten Bund und Länder klimaschädliche Anreize wie das Dienstwagenprivileg abbauen und die Finanzierungsmöglichkeiten erweitern, etwa bei der probeweisen Erhebung von Straßennutzungsgebühren oder von Abgaben für den ÖPNV.

Timm Fuchs, Beigeordneter des DStGB: „Bund und Länder müssen ihre Investitionsoffensive fortsetzen, auch über die bislang schon beschlossenen Zeiträume und Maßnahmen hinaus. Zugleich muss es einen Systemwechsel hin zu einem auskömmlichen und vor allem verlässlichen Finanzierungsmodell geben, das die umweltfreundlichen Verkehrsträger wie den ÖPNV und das Fahrrad weiter stärkt und Mobilität für alle erschwinglich macht. Ziel muss ein Mehr an Akzeptanz bei der Bürgerschaft für ein verbrauchs-, ausstoß- und nutzungsorientiertes Abgabensystem sein. Gefragt sind darüber hinaus auch Alternativen für die vielen Pendlerinnen und Pendler, die bislang auf ihr Auto angewiesen sind.“

Zur Studie „Ein anderer Stadtverkehr ist möglich“

Die Studie wurde vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) im Auftrag von Agora Verkehrswende erstellt. Gemeinsam mit den Verbänden wurden die Ergebnisse bewertet und Leitlinien formuliert. Als Grundlage dienten Erfahrungsberichte und Analysen aus aller Welt, da Kommunen international vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

Tilman Bracher, Leiter des Forschungsbereichs Mobilität am Difu: „Die in der Krise sichtbare Zunahme des Rad- und Fußverkehrs, Homeoffice und der Einsatz digitaler Medien waren gut für Umwelt, Gesundheit und Zeitbudgets. Wir sollten das Erlebte als Ansporn begreifen, die Verkehrswende voranzubringen. Es gilt, die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs und der Innenstädte zu steigern sowie saubere Antriebe und umweltfreundliches Verhalten zu fördern. Wenn wir die Krisenerfahrungen jetzt nicht als Impuls für die Verkehrswende nutzen, dann wird die Atemschutzmaske zu unserem ständigen Begleiter werden – nicht gegen die Pandemie, sondern gegen die Umweltverschmutzung.“

Die Studie mit dem Titel „Ein anderer Stadtverkehr ist möglich. Neue Chance für eine krisenfeste und klimagerechte Mobilität“ (52 Seiten) steht  kostenlos zum Download zur Verfügung.

->Quelle:  Agora-Verkehrswende.de/ein-anderer-stadtverkehr-ist-moeglich