Rolle rückwärts

Atomkraft droht Teil von Europas Wasserstoffmarkt zu werden

Nach Entwürfen der Europäischen Union droht die Kernenergie einen Platz in der künftigen Wasserstofferzeugung Europas einzunehmen. Frankreich und einige osteuropäische Staaten treiben das Atomkraft-Revival voran. Manuel Först hat für energiezukunft die Hintergründe recherchiert.

Frankreichs Stromerzeugung besteht zu rund 70 Prozent aus Kernenergie – AKW Cruas, Rhone mit spielendem Kind auf dem Kühlturm – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Im Juli veröffentlichte die Europäische Kommission erstmals eine Strategie zur künftigen Wasserstofferzeugung und Nutzung in Europa. Schon da war die Kritik groß, dass neben dem Fokus auf grünen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien auch sogenannter blauer Wasserstoff aus Erdgas in die Planungen einbezogen wurde. Entstehende CO2-Emissionen sollen mit sogenannter Carbon-Capture Speicherung (CCS) abgesaugt und im Boden gespeichert werden. Umweltverbände wie der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) kritisierten vor allem die Investitionen, die damit weiter in Gas-Projekte fließen würden. Die Atomkraft war im Juli hingegen noch kein Thema.

Doch Mitte November zeichnete sich ab, dass die Kommission auch Atomkraft in die Überlegungen zur Herstellung von Wasserstoff einbezieht. Wie berichtete, erklärte eine hochrangige EU-Beamtin aus der Energiedirektion der Kommission vor dem EU-Parlament [Paula Abreu Marques, Leiterin des Referats für erneuerbare Energien und CCS-Politik in der Direktion Energie der EU-Kommission], dass man aus Kernenergie erzeugten Wasserstoff als CO2-arm betrachten werde. Das Endprodukt werde dann als violetter Wasserstoff bezeichnet und sei laut der EU-Beamtin im Vorteil gegenüber grauem Wasserstoff – der reinen Wasserstoffgewinnung aus Gas ohne CO2-Abscheidung – der aktuell vor allem zum Einsatz kommt.

Vorrang für grünen Wasserstoff aufgeweicht

Zwei Entwürfe des Rates der Europäischen Union, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammenkommen, zeigen nun: die Überlegungen, nicht nur Erdgas, sondern auch Kernenergie in die Wasserstoffstrategie der Europäischen Union einzubeziehen, werden konkreter. In einem Entwurf des Manifests „für die Entwicklung einer europäischen sauberen Wasserstoff-Wertschöpfungskette“ wurde der Vorrang für grünen Wasserstoff durch die offene Kategorie „sauberer Wasserstoff“ aufgeweicht.

Ein weiterer Entwurf des Rates der EU zeigt, wo die offene Kategorie „sauberer Wasserstoff“ hinführen soll. Der Entwurf „Schlussfolgerungen des Rates – In Richtung eines Wasserstoffmarktes für Europa“ enthält den Vorschlag verschiedene „sichere und nachhaltige CO2-arme Technologien“ unterschiedslos als Klimaschutzoptionen und Erzeugungsquellen für Wasserstoff anzuerkennen. Öffentlich gemacht hatte die Entwürfe der BUND. Deren stellvertretende Vorsitzende Verena Graichen erklärt: „Anstatt Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen klar Vorrang zu geben, soll dem Wortlaut der Förderkriterien nach künftig allgemein ‚sauberer‘ Wasserstoff gefördert werden. Wasserstofferzeugung aus erneuerbaren Energien würde so mit der aus Erdgas und Atomkraft gleichgestellt.“ Der BUND befürchtet, dass damit neben Erdgas auch neue Atomenergie-Projekte gefördert werden können.

Europas Atomkraft-Lobby

Die Lobby für die Atomkraft in Europa ist stark. Erst kurz vor dem EU-Gipfel setzten sich die osteuropäischen Länder Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien und Bulgarien sowie Frankreich für mehr Technologieoffenheit bei der Art der Energieerzeugung ein. Die Kernenergie solle gleichberechtigt behandelt werden, hieß es aus diesen Kreisen.

Und wie der Spiegel berichtete, sagte der französische Staatschef Macron kürzlich bei einer Rede vor Industrievertretern: „Unsere ökologische und energetische Zukunft hängt auch von der Atomkraft ab“. Macron könnte auf zusätzliche Gelder aus dem EU-Rettungsfonds hoffen, der zum Teil an Klimaschutz-Forderungen gebunden ist. Sollte die Kernenergie künftig tatsächlich Teil einer EU-Klimastrategie sein, könnten auch an Frankreichs Atomenergie entsprechende Gelder fließen.

Doch Verena Graichen macht noch einmal deutlich: „Unabhängig vom Folgeprodukt und dessen Nutzen bleibt die Erzeugung von Atomstrom hochriskant, die Urangewinnung eine horrende Umweltverschmutzung und die Endlagerung von Atommüll ein ungelöstes generationenübergreifendes Problem.“

Der BUND fordert die Bundesregierung im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft auf, diesen Unterfangen entschieden entgegen zu treten. Deutschland dürfe seinen eigenen Atomausstieg nicht durch die europäische Hintertür rückgängig machen. Doch bislang hat sich die Bundesregierung zu den Bestrebungen der europäischen Partner nicht geäußert. Die EU-Energieminister haben am 14.12.2020 weiter über die Entwürfe beraten. Am 17.12.2020 will die EU-Kommission das fertige Manifest für die künftige Wasserstoffstrategie Europas der Öffentlichkeit präsentieren. mf

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