Gegen das Spiel mit gezinkten Karten

Handbuch Klimaschutz – gelesen von Walter Tauber

Mit Statistiken kann man jede und jeden erschlagen. Das geht ganz einfach: Wähle einen Standpunkt, suche dazu passende Fakten und blende alles andere sorgsam aus. Tabellen und Grafiken werden Diskussionspartner, die sich nicht oder ungenügend vorbereitet haben, geschwind zum Schweigen bringen. Ob im Familienkreis, am Stammtisch oder im Rat der Gemeinde, sorgsam ausgewählte Fakten und ein selbstsicheres, ja forsches Auftreten plätten jeglichen Widerspruch. Wer hat das nicht schon erlebt? Wen haben noch nie Zweifel befallen am eigenen Standpunkt? Und wer hat Zeit und Energie, um dann immer wieder neu zu recherchieren?

Diese Zeit und Energie sollten wir aber aufbringen. Denn so wird Politik gemacht. Wir stehen meist hilflos dem Redeschwall gegenüber. Wir werden bombardiert von Information, die sich erst durch sorgsame Recherche als Propaganda entlarven lässt. Die Mächtigen, die uns gegenüberstehen, haben viel Zeit und viel Geld. Die stellen professionelle Lobbyisten und Medienfachleute an. Wie das im Detail funktioniert beschreibt etwa das wichtige Buch „Die Klimaschmutzlobby“.

Nicht immer sind die Lügen so dreist wie die texanischen Politiker, die behaupten, die Energiekrise werde durch „eingefrorene Windräder“ verursacht. Diesen Unsinn beschreibt Heike Buchter in Die Zeit. Und die Umweltaktivistin und Publizistin Naomi Klein in der New York Times: „Der gegenwärtige Horror in Texas enthüllt sowohl die Klimakrise und die extreme Anfälligkeit der fossilen Energie-Infrastruktur…

Die Mächtigen spielen mit gezinkten Karten. DER SPIEGEL beklagt „… ein verdecktes Netzwerk von Gegnern der Energiewende, unterstützt von der Industrie, das massiv gegen neue Windräder vorgeht. Im Zentrum steht der wirtschaftskonservative Flügel der CDU.“ Und die Grünen kämpfen bislang vergeblich im Niedersächsischen Landtag gegen die Senkung der Förderabgaben für Öl und Gas zugunsten der Energiekonzerne.

Förderung von Öl und Gas? Wie ist das zu vereinbaren mit den Phrasen über Klimaziele, Pariser Abkommen und all die anderen wundersamen Versprechen, mit denen wir berieselt werden? Wir werden nach Strich und Faden betrogen. Hier etwa die Enthüllung der Deutschen Umwelthilfe: „Sage und schreibe eine Milliarde Dollar hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz seinem damaligen Amtskollegen in der Trump-Regierung in einem inoffiziellen Brief angeboten, damit diese die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 durchwinke. Unsere Steuergelder sollen LNG-Terminals für amerikanisches Fracking-Gas an der Nordsee subventionieren – laut Bundesregierung eigentlich „rein privatwirtschaftliche Projekte“

Widerstand ist unerlässlich. Mit dem „Handbuch Klimaschutz – Wie Deutschland das 1,5-Grad-Ziel einhalten kann: Basiswissen, Fakten, Maßnahmen“ (das in jeden Haushalt gehört) haben wir ein Werkzeug, das unsere Auflehnung gegen Propaganda unterstützen kann: Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.), BürgerBegehren Klimaschutz (Hrsg.) – Projektleiter Karl-Martin Hentschel erklärt einleitend, was dieses Werk anstrebt. „Es gibt kein Gesamtszenario, das sich an dem Pariser Klimaziel orientiert. Die hier vorliegende …Studie soll diese Lücke füllen.“ (s.10). Über 300 wissenschaftliche Untersuchungen wurden ausgewertet. Dabei verzichteten die AutoInnen auf technischen Jargon und verstärkten das Verständnis mit zahlreichen Grafiken. „Dieses Handbuch soll einer möglichst breiten Leser*innenschaft zugänglich gemacht werden,“ so Hentschel, „und eine Basis bilden für politische Debatten in der Zivilgesellschaft, im Kontext von Bürgerbeteiligung und Politik.“

Und gerade das ist der große Verdienst dieses Buches. Es ist ein Werkzeug für das klimapolitische Engagement. Auf der Webseite erklären die Herausgeber das so: „Mit dem Handbuch Klimaschutz stehen nun alle Möglichkeiten offen, auch in Deutschland zum Klimathema Bürgerräte (auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene) durchzuführen. Es macht Sinn, sich dabei an den Zielen des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu orientieren. Denn dies ist die geltende völkerrechtliche Grundlage, ratifiziert vom deutschen Bundestag am 22. September 2016.

Der Haken bisher war: Es gab bisher keine Studie, die die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland abbildete und sich am Ziel der maximalen Erwärmung um 1,5 Grad orientierte. So ist das Handbuch Klimaschutz entstanden – als ein Überblick und eine Zusammenführung von mehr als 300 Studien. Es soll eine Wissensgrundlage und Entscheidungshilfe für Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik liefern – und für einen möglichen Klimabürgerrat natürlich auch.

Das bestätigen anfangs bekannte Stimmen aus der Wissenschaft: „Dieses Buch ist der perfekte Einstieg für alle, die beim Thema Klima mitreden und -entscheiden wollen,“ versichert etwa Maja Göpel. Und Claudia Kemfert: „Endlich eine Studie, die den Stand der Klimawissenschaft verständlich für Laien zusammenfasst.“ Gregor Hagedorn, Initiator der Bewegung „Scientists for Future“ bestätigt: „Niemand kann die Zukunft vorhersagen…. aber angesichts einer zutiefst nichtnachhaltigen Zivilisation ist Zukunftsplanung nicht närrisch, sondern notwendig.“

Schaubilder und Zusammenfassungen vereinfachen den Zugang zu hochkomplexer Materie. Das bestärkt uns in der Debatte, denn allzu oft wird Komplexität von Bremsern der Energiewende als Ausrede für ihren Unwillen vorgeschoben. Wir würden das nicht verstehen, winken sie ab. Und dann geben sie Millionen aus für Gutachten, deren Hauptziel es ist, uns zu verwirren und ihre politischen Ziele zu unterstützen. Welcher Gutachter beißt auch die Hand, die ihn füttert?

Die Grafiken „Das Klima… und der Mensch“ (s.12-13) und „Dominoeffekt der Erwärmung“ (s.14-15) bringen es mit der darauffolgenden „Zusammenfassung“ (s. 16-19) auf den Punkt. Ursachen und Folgen werden uns allen klar. In vier Teilen geht das Handbuch dann auf jeden einzelnen Punkt ein. Teil 1 „Ziele und Voraussetzungen der Klimapolitik“ (s. 20-29) gibt uns den Rahmen und zeigt, was Klimapolitik ist und will. Dazu ein wichtiger Exkurs: Was kann und soll der Klima-Bürgerrat? (s.28-29). Hier werden die Befürchtungen und Hoffnungen der BürgerInnen zusammengefasst. Und Perspektiven zur Umsetzung vorgezeichnet.

Der zweite Teil „Wege der Transformation“ (s. 30 – 37) zieht Bilanz. Woher die Treibhausgase kommen erkennen wir auf einer Grafik. Dass die Landwirtschaft nur sieben Prozent ausstößt scheint im Vergleich zu anderen Quellen niedrig zu sein – aber die benutzten Statistiken beziehen sich auf Deutschland, weltweit mag das anders aussehen. Die zwei folgenden Grafiken unterstützen uns in einem Kernpunkt der Debatte. Wer wurde nicht schon konfrontiert mit der Frage „Was wollt ihr denn?“ oder „Wie soll das denn funktionieren?“ Als ob man jederzeit einen fertigen Plan aus der Tasche zaubern könnte. „Wie könnte eine klimaneutrale Gesellschaft aussehen?“ (s. 32 – 33) vergleicht das heutige und das neue, wünschenswerte Energiesystem. Der Überblick hilft uns bei den immer wiederkehrenden „ja, aber“ Debatten, dem Totschlag-Argument aller Bremser und Zweifler. Etwa: E-Autos schön und gut, aber wie soll man die Häuser heizen? Diese Grafiken geben uns einen Überblick – alles hängt zusammen und ergibt ein kohärentes Gesamtbild. Das eine tun heißt nicht, das andere lassen zu müssen. Das behaupten nur jene, die partout nichts ändern wollen.

Im Teil 3 „Rahmenbedingungen schaffen“ (S. 38 – 53) geht es ans Eingemachte. „Änderung des Lebensstils“ heißt der erste Abschnitt. „…der Klimarat in Frankreich … gibt an, dass ein Viertel der Emissionen durch reine Verhaltensänderungen eingespart werden kann.“ (S. 39). Das ist der Punkt, an dem die Bremser, die Leugner, die Profiteure des Bestehenden oder die einfach Denkfaulen auf die Barrikaden gehen. „Verbotskultur“ plärren sie dann, während sie ihren hochsubventionierten Dienstwagen polieren. Die Einsicht, dass „Änderung des Lebensstil“ nicht Verzicht bedeuten muss sondern mit einer wirklichen Bereicherung einhergeht ist ohne Zweifel die erste Erkenntnis, die wir als Konsumbürger auf diesem Weg der Änderung erkennen. Hier geht es aber nicht in erster Linie um individuelles Verhalten. Das Handbuch weist praktische Wege auf, spricht von Dämmung oder Elektromobilität, von Kreislaufwirtschaft, erneuerbaren Energien und grünen Rohstoffen. Aber es bleibt nicht beim technischen. In den Abschnitten „Planungsrecht“ (s.45), „Digitalisierung (S. 46) und „Die Finanzierung der Umstellung“ (S. 47 – 49) werden sehr konkrete Maßnahmen angesprochen. Die Finanzwelt ist längst weiter als die nervös auf Wahltermine schielenden Parteiführungen. Während Minister Peter Altmeier sich kümmert um Entschädigungen für angeblich lädierte Kohlekonzerne (die sich nie um unsere lädierte Umwelt gekümmert haben), sorgt sich die Finanzwelt um „stranded assets“. Das sind Investitionen, die Plötzlich ihren Wert verlieren. Erdölreserven zum Beispiel. Wenn fossile Energiequellen im Boden bleiben, dann müssen Shell oder ESSO Milliarden von ihren Aktiva streichen.

Das Handbuch geht sehr gründlich auf ein praktisches Mittel ein, um den notwendigen Wandel durchzusetzen: Treibhausgaspreise (s. 49 – 53). „Alle uns bekannten Studien sind sich darüber einig,“ so das Handbuch, „dass ein Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen eines der wirkungsvollsten Instrumente für den Klimaschutz ist.“ (s. 49).

Teil 4 „Klimaneutralität Umsetzen“ (s. 54 – 99) kündigt schon im Untertitel an, worum es geht: „Was müssen wir konkret tun?“ Und das ist die Frage, mit der wir immer wieder konfrontiert werden, sobald wir die bequeme Blase der Gleichgesinnten verlassen. Diese Debatte müssen wir aber hinaustragen in alle Richtungen. Wenn jetzt die Atomlobby vorprescht und die überwunden geglaubte Nuklearspaltung massiv ins Gespräch bringt, werden wir zunächst überrumpelt. Denn dann kommt gleich die Frage auf: Wie soll es denn sonst gehen? In diesem Handbuch finden wir Antworten. Man kann es durchlesen in einem Ruck, was zugleich spannend und anstrengend ist. Vor allem aber ist es ein Nachschlagewerk zu allen Diskussionspunkten, mit denen wir konfrontiert werden. Auf Seite 60 etwa Erstaunliches zur Biomasse: …“ wir gehen davon aus, dass bis 2035 der Anbau von Energiepflanzen komplett eingestellt wird. Der Biomasseimport für Bioenergie sollte schon deutlich früher enden.“ Also doch noch Hoffnung für die Wälder von Lettland bis South Carolina oder für den Busch in Namibia, bevor sie von den Kohlekonzernen in ihren Meilern verfeuert werden? (dazu: https://www.robinwood.de/stopp-holzverbrennung-kraftwerken).

Stabilität der Stromversorgung ist ein Reizthema, mit dem gerne Angst geschürt wird. Zuletzt in Texas während des unerwartet schweren Wintereinbruchs. Während die Konzerne dank der Liberalisierung des Marktes fette Gewinne einstrichen, weinten die Politiker Krokodilstränen oder flogen wie Ted Cruz nach Cancun in den Urlaub (s. oben ihre Lügen). Wie viele Gewinne die Netzbetreiber in Deutschland einstreichen ist ein noch zu wenig beachtetes Thema (auf das wir noch eingehen werden). Um Stabilität zu sichern, erkennt das Handbuch „die vier bedeutendsten Maßnahmen…Lastmanagement, Netzausbau, Energiespeicher und Notreserven.“ Diese vier Punkte werden dann im Detail beschrieben. Und als Krönung bietet uns das Handbuch, wie bei allen Kapiteln, einen Kasten mit Fragen, über die BürgerInnen nachdenken und diskutieren können (S. 65). Es folgen die Sektoren Hauswärme (S. 66 – 73), Verkehr (s. 74 – 84), Industrie (S. 85 – 91) und Landwirtschaft (S. 92 – 99), inklusive Bodennutzung und Abfälle.

Zum Abschluss gibt ein Energieflussdiagramm mit erläuternden Anmerkungen (S. 101 – 105) ein überschaubares Bild über Herkunft und Gewinnung der Energie in Deutschland. Die Grafik zeigt deutlich, was wir wofür brauchen. Und was wofür überhaupt genutzt werden kann.

Zur Erinnerung: Dieses Handbuch ist nicht die Studie eines Teams von WissenschaftlerInnen. Es ist eine wissenschaftlich angelegte Übersicht über mehr als 300 Studien. Und es ist ein Dokument von unschätzbarem Wert. Es ist ein Werkzeug, ein Rückhalt für alle so überfälligen und so dringenden Debatten, die uns bevorstehen. 2050 ist morgen. Wenn wir bis dann die Welt retten wollen, müssen wir uns dringend an die Arbeit machen. Die BürgerInnenräte bieten einen direkten Weg für alle.

->Quellen: