Katastrophenschutz durch Simulation

Gletscherseen können ziemlich gefährlich werden

Die Anzahl der Gletscherseen hat sich in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt. Für Menschen, die in Hochgebirgstälern leben, bilden sie eine Gefahr: Bei Gletschersee-Ausbrüchen entsteht eine schlammige Sturzflut, die sich mit hoher Geschwindigkeit talabwärts bewegt. Forschende der Hochschule München haben erstmals simuliert, was in einem Himalaya-Tal im Königreich Bhutan im Katastrophenfall passiert.

Mount Everest – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Weltweit schmelzen die Gletscher in Folge des Klimawandels, vor allem unterhalb des Himalaya. „Dies führt nicht nur zu einem Anstieg des Meeresspiegels, sondern erhöht auch die Anzahl der Gletscherseen“, erklärt Wilfried Hagg, Professor an der Fakultät für Geoinformation an der Hochschule München. „Die Gletscherseen können ziemlich gefährlich werden, weil sie nur durch natürliche Dämme aufgestaut werden, die brechen können. Die Folgen sind dann Gletschersee-Ausbrüche mit fatalen Konsequenzen für die Menschen, die in den Hochtälern leben.“

Prozess „Saúl ./. RWE“ läuft seit 2015 – jetzt wissenschaftliche Belege – Rupert Stuart-Smith (University of Oxford) und Gerard Roe (University of Washington, Seattle) warnen in Nature Geoscience vor einer Naturkatastrophe durch den Gletschersee Laguna de Palcacocha in den peruanischen Anden. 22 km unterhalb des Sees liegt die 120.000 Einwohner zählende Stadt Huaraz. Ein erneutes Unglück (nach 1941) hätte noch verheerendere Folgen, mahnen die Forscher. Seit 2015 sieht sich der Energieversorger RWE deshalb einer Klage des Kleinbauern und Bergführern Saúl Luciano Lliuya beim Landgericht Essen gegenüber. (solarify.eu/gletschersee-bedroht-peruanische-stadt-huaraz)

Innerhalb der vergangenen 40 Jahre beobachteten die Forschenden eine Verdoppelung der Gletscherseen, in denen sich das Schmelzwasser sammelt. Allein in den fünf großen Flussgebieten des Hindukusch-Himalayas gibt es heute mehr als 25.000 Seen. Die meisten bilden sich hinter Wällen aus Gesteinsbrocken, Sand und Ton. Steigt der Wasserspiegel in den Seen, so werden auch diese Endmoränen zunehmend durchtränkt und verlieren an Stabilität. Eine Zusatzbelastung, beispielsweise durch starken Regen, ein abbrechendes Gletscherstück oder eine Eislawine, führt dann zur Katastrophe: Der Damm bricht, das Wasser vermischt sich mit dem Sediment und rauscht als Schlammlawine mit bis zu 20 Stundenkilometern talabwärts auf Siedlungen und Dörfer zu. „Im Himalaya hat es schon mehrere solche ‚Glacier Lake Outburst Floods‘, kurz GLOFs, gegeben“, berichtet Hagg. In Bhutan kamen im Jahr 1994 bei einem solchen Ausbruch 21 Menschen ums Leben.

Case Study Bhutan

Der Geograph und Glaziologe kennt das Königreich Bhutan – ein Land, in dem die Regierung aus eigener Anschauung nicht ein hohes Bruttoinlandsprodukt, sondern ein hohes Bruttonationalglück anstrebt. Vor drei Jahren hat Hagg eine Exkursion in das Himalaya-Land geleitet und dabei zahlreiche Kontakte zu Behörden und Forschenden geknüpft. Nun hat er zusammen mit einer Gruppe Studierender untersucht, welche Folgen ein Durchbruch des Gletschersees Sintaphu Tsho hätte. Er gehört aufgrund seiner Lage und Größe – der See bedeckt eine Fläche von 24 Hektar und fasst 6,2 Millionen Kubikmeter Wasser – zu den potenziell besonders gefährlichen Seen.

„Die Herausforderung des Projekts lag darin, mithilfe sehr komplexer Softwaretools Geländemodelle zu erstellen und daraus, für den Fall eines Ausbruchs, verschiedene Szenarien zu berechnen. Das wurde für die Gletscherseen Bhutans noch nie gemacht“, erläutert Hagg. „Die Studierenden leisteten hier Pionierarbeit und haben sich richtig reingehängt, um die Probleme zu bewältigen.“

Je besser die Daten, desto genauer die Prognose

Im ersten Schritt erstellte das Team aus frei verfügbaren Radardaten von Erdbeobachtungssatelliten ein digitales Geländemodell. Auf Basis dieses Modells führten die Beteiligten dann hydrodynamische Simulationen für drei verschiedene Szenarien durch: Im ersten Fall stürzen beim Ausbruch des Gletschersees 90 Prozent des Wassers ins Tal, im zweiten Fall 70 Prozent und im dritten Szenario 40 Prozent. „Die ersten Ergebnisse unserer Berechnungen waren wenig aussagekräftig“, erinnert sich Hagg. „Die Auflösung des Geländemodells war mit einem Rasterabstand von 30 Metern viel zu niedrig, man konnte keine Details erkennen, die Morphologie erschien unnatürlich glatt und konnte die Wassermassen in keinem der Szenarien bremsen.

Informationen retten Leben

Als es gelang, höher auflösende Erdbeobachtungsdaten zu erhalten und das Geländemodell zu verbessern, lieferten die hydrodynamischen Modelle realistische Ergebnisse. So ergießen sich im schlimmsten Fall, wenn 90 Prozent des Wassers durch den Damm brechen, bis zu 5.700 Kubikmeter Wasser und Schlamm pro Sekunde talwärts. Nach vier Stunden erreicht die Flutwelle die 85 km entfernte Siedlung Punakha. Im besten Fall, wenn nur 40 Prozent des Seewassers austreten, fließen nur 816 Kubikmeter Wasser pro Sekunde talabwärts, werden durch den Kontakt mit dem Untergrund immer wieder abgebremst und erreichen erst nach sieben Stunden Punakha.

„Die Ergebnisse zeigen, dass sich mit Hilfe von Simulationen recht genau vorhersagen lässt, was nach einem Gletschersee-Durchbruch passiert“, resümiert Hagg. „Das ist hilfreich für die örtlichen Behörden, denn die wichtigste Voraussetzung für den Katastrophenschutz ist Information: Wenn man weiß, was passieren kann, lassen sich Vorkehrungen treffen. Man kann beispielsweise den Wasserspiegel des Sees künstlich absenken und außerdem Warnsysteme installieren, damit die Bevölkerung rechtzeitig in höheren Lagen Schutz suchen kann.“

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