BDEW: Kohleausstieg 2030 nach wie vor möglich

Oder doch nicht? Kohle vor Klima?

Selbst der grüne Wirtschaftsminister zieht die Energiesicherheit dem Klimaschutz vor: Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine kommen erste Stimmen auf, die den Kohleausstieg verschieben wollen. „Nicht notwendig, stellt die Energiewirtschaft in einer aktuellen Analyse klar“, schreibt Sven Ullrich am 01.03.2022 lakonisch auf Erneuerbare Energien. Er meint den Branchenverband BDEW. Solarify dukumentiert dessen Lagebericht unter dem Titel: „Deutsche Energiewirtschaft: Verantwortung für Versorgungssicherheit“. 

Kohlekraftwerk Schkopau, Sachsen-Anhalt – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Allgemeine Einordnung:

  • Die deutsche Energiewirtschaft blickt mit Bestürzung und großer Sorge auf die Situation in der Ukraine. Leidtragende dieses Krieges ist in allererster Linie die ukrainische Bevölkerung. Unsere Gedanken sind auch bei den Menschen, die sich in Russland gegen Putin stellen. Die Auswirkungen sind weder geopolitisch noch energiepolitisch und wirtschaftlich zurzeit absehbar. Sie sind abhängig von den weiteren Entwicklungen und insbesondere dem Handeln Russlands. Wir hoffen inständig, dass Deeskalation und Diplomatie Eingang finden.
  • Der russische Überfall hat schon jetzt Auswirkungen auf unsere Energieversorgung, die weiter zunehmen können.
  • Die Energiewirtschaft weiß um ihre große Verantwortung und nimmt sie in dieser besonders ernsten Situation in aller Besonnenheit an. Wir unterstützen die Bemühungen der europäischen Institutionen und insbesondere der deutschen Bundesregierung, die Versorgungssicherheit auf einem möglichst hohen Niveau zu gewährleisten und gleichzeitig im europäischen Verbund mit aller Klarheit und Entschiedenheit gegenüber der russischen Regierung aufzutreten.
  • Die Energiewirtschaft prüft alle Optionen und wird Maßnahmen ergreifen, die kurz-, mittel- und langfristig die Energieversorgung unabhängiger und unser System resilien-ter machen. Deutschland wird auch weiterhin ein Energie-Import-Land bleiben. Insbesondere für die kurzfristigen Maßnahmen kommt es vor allem darauf an, zusätzlich ge-sicherte Leistung zu realisieren. Dies kann auch temporär Einfluss auf kurzfristige Emis-sionsreduktionsziele haben. Zu allen Optionen und Maßnahmen stehen wir in engem Austausch mit der Bundesregierung und bieten jede Unterstützung an. Ein abgestimmtes und besonnenes Vorgehen von Energiewirtschaft und Politik auf allen Ebenen ist von essenzieller Bedeutung für die weitere Gewährleistung von Versorgungssicherheit.
  • Wir sehen zudem mit Sorge, dass die Preisentwicklung im Strom- und Gasmarkt zu einem drängenden Problem für viele Kunden – Haushalts- wie gewerbliche und industrielle Kunden – wird. Die Frage der Bezahlbarkeit von Energie kann nur in einem gemeinsamen Ansatz von Politik und Energiewirtschaft gelöst werden. Über die bereits beschlossenen Maßnahmen hinaus wird sehr genau zu betrachten sein, inwieweit insbesondere Menschen mit geringem Einkommen, aber auch Wirtschafts- und Industriezweige Unterstützung durch industrie- und sozialpolitische Instrumente benötigen. Folgen dieser Krise werden einen unübersehbaren Einfluss auf die Beschaffung der Unternehmen haben und somit auf die Preisbildung.
  • Der schnelle und massive Ausbau der Erneuerbaren Energien ist heute mehr denn je entscheidend, um die Energieversorgung Deutschlands perspektivisch unabhängiger von Kohle-, Gas- und Ölimporten zu machen.

Situation beim Schutz kritischer Infrastruktur:

  • Der BDEW und seine Mitgliedsunternehmen beobachten mit Sorge die umfassenden militärischen Interventionen Russlands auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine. Auch der Cyberraum ist dabei Schauplatz koordinierter und schwerwiegende Angriffe auf ukrainische Unternehmen und Regierungseinrichtungen geworden. Der BDEW steht daher auch mit seinen Mitgliedsunternehmen und den zuständigen Behörden im engen Austausch, um die Bedrohungslage für die Energie- und Wasserwirtschaft durch Cyberangriffe fortwährend zu bewerten. Der BDEW betrachtet die Lage als sehr ernst.
  • Die deutsche Energieversorgung zählt zu den sichersten weltweit. Die Betreiber Kritischer Infrastrukturen müssen kontinuierlich sehr hohe regulatorische Sicherheitsanforderungen u.a. für Energieversorgungsnetze und für Energieanlagen sowie Meldepflichten bei IT-Sicherheitsvorfällen gegenüber dem Bundesamt für Sicherheit in der Infor-mationstechnik umsetzen und nachweisen. Die Einhaltung dieser Anforderungen wird von der Bundesnetzagentur sowie dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik überwacht und die Anforderungen werden bei Bedarf aktualisiert oder erweitert. Die in Deutschland für den Sektor Energie geltenden Anforderungen gehen weit über die verpflichtenden Mindestanforderungen der Europäischen Cybersicherheitsrichtlinie hinaus.
  • Wir unterstützen die Bemühungen von Entso-E, das ukrainische Übertragungsnetz so schnell wie möglich mit dem europäischen Verbundnetz zu synchronisieren. Dabei müssen die Risiken für die Stabilität des Verbundnetzes so weit wie möglich reduziert werden.

Situation der Erdgasversorgung:

  • Russland liefert mehr als 50 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases (in der EU knapp 40 Prozent). Sollten Lieferungen aus Russland kurzfristig ausfallen, ist das eine große Herausforderung. Mit diesem Szenario beschäftigen wir uns derzeit intensiv.
  • Die Energiewirtschaft geht davon aus, dass sie in diesem Winter ihre Gaslieferverpflichtungen unabhängig von Lieferungen aus Russland erfüllen kann. In Europa gibt es Sicherungsmechanismen, die in einer Engpasssituation greifen. In jedem Fall sind Haushaltskunden und Einrichtungen, wie beispielsweise Krankenhäuser, durch gesetzliche Bestimmungen besonders geschützt. Auch würden vertraglich geregelte Abschaltvereinbarungen mit der Industrie oder der Wechsel auf andere Energieträger die Nachfrage nach Gas drosseln.
  • Europa kann aktuell auf einen breiten Liefermix bauen: Gas erreicht damit auch Deutschland aus verschiedenen Quellen. Hinzu kommen die sehr gute Gasspeicher-Infrastruktur, insbesondere in Deutschland, sowie das europäische Gas-Verbundnetz, das den innereuropäischen Gas-Austausch ermöglicht und das in den vergangenen Jahren immer stärker ausgebaut worden ist.
  • Die deutschen Gasspeicher sind kurz vor dem Winterende zu rund 30 Prozent gefüllt und weisen damit wieder einen vergleichbaren Stand zu den Vorjahren auf. Die Energiewirtschaft unterstützt die Bundesregierung in dem Bemühen, den Beitrag von Gasspeichern zur Versorgungssicherheit krisenfest zu machen. Unabdingbares Ziel ist, mit ausreichend gefüllten Gasspeichern in den nächsten Winter zu gehen und dies auch nachhaltig sicherzustellen. Die ebenfalls essenzielle Aufgabe von Gasspeichern, saisonale und kurzfristige Schwankungen im Gasbedarf auszugleichen (Systemwert) und den Gashandel zu optimieren (Marktwert), muss dabei bestmöglich erhalten werden. Der Ansatz, die Ausschreibung von Gasmengen, die von Marktteilnehmern in Gasspeichern vorgehalten und bei Abruf zur Verfügung gestellt werden müssen (angepasste Long Term Options), auszuweiten, ist richtig und zielführend. Dies kann ggf. mit weiteren Maßnahmen kombiniert werden. Gefundene Regelungen müssen der Maßgabe folgen, definierte Füllstände zum Beginn und zu weiteren Zeitpunkten der Heizperiode vorzuhalten und dabei Verbraucher nicht mit unnötig hohen Kosten zu belasten.
  • Aktuell bezieht Europa auch verstärkt Flüssigerdgas via Großtanker aus den USA und Katar. Insbesondere dort und in Australien sind Produzenten in der Lage, ihre Angebotsmenge kurzfristig auszuweiten. Es besteht somit die Möglichkeit, zusätzliche Flüssigerdgas-Mengen zu beziehen – allerdings bei voraussichtlich hohen Preisen. Als Engpass könnten sich aber die weltweite Nachfrage sowie die Verfügbarkeit von Terminals und Transportleitungen herausstellen.
  • Zudem ist es zum Schutz der Lieferanten und deren Kunden auf allen Ebenen notwendig, dass die Bundesregierung bei maßgebenden Lieferausfällen zeitnah reagiert und gemäß Notfallplan Gas handelt. Neben den Maßnahmen, die die EU-Verordnung über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung (SoS-Verordnung) vorsieht, sollte der Erlass entsprechender Rechtsverordnungen aufgrund von § 1 des Energiesicherungsgesetzes 1975 vorbereitet werden.
  • Grundsätzlich ist es zum Erhalt der Versorgungssicherheit mit Gas wichtig, die beste-henden Marktrollen zu nutzen, um das bestehende Marktsystem zu erhalten. Nur im Zusammenspiel der Marktakteure kann die Versorgungssicherheit tatsächlich mit einem Höchstmaß gewährleistet werden. Die Gasnetzbetreiber stellen die erforderlichen Transport- und Verteilkapazitäten bereit. Die Gas-Handelsunternehmen (Großhändler) beschaffen an nationalen und internationalen Gasmärkten die Gasmengen, die von den Lieferanten im Endkundenmarkt an die Letztverbraucher vertrieben werden. Die Speicherbetreiber stellen Kapazitäten sowohl für die Optimierung der Gasimporte, für Lieferunterbrechungen, für den Spitzengasbedarf und für Handelsoptimierungen zur Verfügung.

Situation bei der Stromproduktion auf Basis Kohle:

  • Engpässe in der deutschen Stromerzeugung gibt es momentan nicht. Die Kraftwerke produzieren plan- und bedarfsgerecht. Die Prinzipien des Strommarkts sollten nicht infrage gestellt werden, um auch weiterhin eine effiziente und sichere Stromproduktion zu gewährleisten. Die Weltsteinkohleförderung im Pandemiejahr 2020 belief sich auf 7060 Mio. Tonnen, Russland ist dabei ein wichtiger Exporteur und in 2020 mit 12,9 Mio. Tonnen sogar der bedeutendste Lieferant für Deutschland.
  • Der Anteil der russischen Steinkohle in der Stromerzeugung in Deutschland liegt bei etwa 50 Prozent (in der EU bei gut 40 Prozent); in einzelnen Kraftwerken in Deutschland werden aktuell bis zu 75 Prozent russische Steinkohle verfeuert. Steinkohle wird weltweit gehandelt, bei reduzierten Lieferungen aus Russland können theoretisch Lieferungen aus Ländern wie Australien, Indonesien, USA, Kolumbien, Südafrika und Kanada erfolgen. Hierbei ist jedoch neben Weltmarktpreisen eine deutlich höhere Seefrachtrate zu berücksichtigen.
  • Aktuell reichen die Bestände in den Steinkohle-Lagern in Deutschland etwa bis Mai 2022, einzelne Unternehmen erwarten in den kommenden Wochen weitere Lieferungen aus Russland.
  • Eine vollständige Umstellung der Lieferketten für die Steinkohle-Versorgung der Kraftwerke in Deutschland würde mehrere Monate dauern.
  • Sollte es kurzfristig zusätzliche Kapazitätsbedarfe zum Erhalt der Versorgungssicherheit geben, wird die Energiewirtschaft gemeinsam mit der Politik Lösungen entwickeln. Zu prüfen wäre dann zum Beispiel, ob Kraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft eingesetzt werden könnten oder ob bereits stillgelegte Anlagen temporär zurück ans Netz gebracht werden könnten.
  • Ein anvisierter vorgezogener Kohleausstieg ist unter der Bedingung von Substitutionen durch Erneuerbare Energien und die erforderliche gesicherte Leistung weiterhin mög-lich.

Ausblick zur Versorgungssicherheit:

  • Insgesamt werden mittelfristig vor allem der massive Ausbau Erneuerbarer Energien, eine diversere Beschaffungsstruktur und der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft bedeutsam für eine auf diversifizierten Energieströmen basierende Versorgungssicherheit sein, um unabhängig von fossilen Energieträgern zu werden. Hierbei wird die Energiewirtschaft eine treibende Rolle spielen.
  • Dabei muss der Ausbau der Erneuerbaren Energien und der dazugehörige Aus- und Umbau der Netzinfrastruktur – auch bei Abwägungsprozessen – absolute Priorität haben. Hemmnisse insbesondere bei der Genehmigung und Realisierung von Projekten müssen der Vergangenheit angehören. Wenn wir unsere Energieversorgung resilienter und unabhängiger machen wollen, dann muss der Ausbau der Erneuerbaren Energien in einem Tempo und Maße zulegen, welches wir in Deutschland bis dato nicht kennen.
  • Um in den nächsten Jahren unabhängiger von russischem Erdgas zu werden, sollten zum einen Diversifizierung und Absicherung der Lieferketten im Fokus stehen, zum anderen der Ausbau zusätzlicher Infrastrukturen wie etwa LNG-Terminals (oder perspek-tivisch auch FSRUs – Floating Storage and Regasification Units) ermöglicht werden. LNG-Terminals können perspektivisch auch einen Beitrag leisten, um die Importstruktur für grüne Moleküle aufzubauen. Die Unternehmen brauchen bei absehbaren Unsicherheiten allerdings Investitionssicherheit und staatliche Unterstützung sowie die Perspektive einer mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Nutzung. Zu berücksichtigen bleibt, dass die Errichtung solcher zusätzlichen Infrastrukturen mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Bundesregierung sollte prüfen, inwieweit Planungs- und Genehmigungsverfahren für eine LNG-Infrastruktur deutlich beschleunigt werden kön-nen.
  • Der bereits begonnene Transformationspfad der Gaswirtschaft hin zur Klimaneutralität wird in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen wichtiger denn je. Es gilt diesen Prozess zu beschleunigen und erforderliche politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Dabei ist der Hochlauf von Wasserstoff von zentraler Bedeutung, sein Bezug muss von Anfang an diversifiziert gestaltet werden. Die Realisierung heimischer und europäischer Produktionsstätten ist ebenso wichtig und notwendig wie das Entstehen eines globalen (Commodity-) Marktes für grünen Wasserstoff und Wasserstoffderivate. Für den Aufbau der Infrastruktur für Erneuerbare und dekarbonisierten Wasserstoff bedarf es auch weniger Restriktionen. Zudem braucht es schnell eine entschlossene europäische Wasserstoffstrategie.
    Entscheidend ist, dass zu restriktive Kriterien, insbesondere im Hinblick auf die Additivität und zeitliche Korrelation zwischen der Produktion von Grünstrom und Wasserstoff, einen schnellen Markthochlauf auszubremsen drohen und daher verhindert werden müssen.
    Auch heimisches Biogas ist ein wichtiger Baustein. Auf Erdgasqualität aufbereitet und als Biomethan in die vorhandene Gasinfrastruktur eingespeist, kann es jederzeit gespeichert und zu den Verbrauchern transportiert werden. Nur können aufgrund nicht ausreichender Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel der entsprechenden Anerkennung im Bereich des Wärmemarktes, die Potentiale nicht ausgeschöpft werden. Hier gilt es, kurzfristig die rechtlichen Voraussetzungen zu verbessern – beispielsweise auch für den Import von Biogas.
  • Die Reduzierung der CO2-Emissionen auf dem Zielpfad zur Klimaneutralität muss neben Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit weiter prioritär bleiben. Diese Ziele stehen auch in der aktuellen Krise nicht im Widerspruch, sondern müssen stets zusammen ge-dacht werden.

->Quellen: