Mehr Raum für Flüsse

Hochwasserschutz mit Mehrfachnutzen

Ökologischer Hochwasserschutz – der Auen wiederherstellt – ist sinnvoll, technisch möglich und wirtschaftlich effizient. Und doch wird dieser Ansatz weltweit noch nicht konsequent umgesetzt, weil die administrativen und rechtlichen Hürden hoch sind. Das zeigt eine in Frontiers in Environmental Science open access veröffentlichte Untersuchung von Wissenschaftlern des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), die gemeinsam mit anderen Forschungseinrichtungen vier Projekte zur Renaturierung von Flussauen in Deutschland und den USA analysiert haben. Die Forschenden empfehlen Politik und Behörden daher, dem ökologischen Hochwasserschutz Vorrang zu geben und die nötigen Flächen verfügbar zu machen. So ließen sich auch nationale und europäische Umweltziele besser erreichen.

Flüssen mehr Raum zu geben, ist der sinnvollste Hochwasserschutz – Foto © Franziska Vogt

„Der konventionelle technische Hochwasserschutz greift stark in die Gewässerstruktur ein, ist teuer, in der Regel starr und lässt sich nicht ohne Weiteres an die im Klimawandel zunehmenden Überschwemmungen anpassen. Die technischen Maßnahmen schränken auch die natürlichen Funktionen von Überschwemmungsgebieten ein, zu denen etwa die Wasserspeicherung und die Verbesserung der Wasserqualität gehören. Außerdem gehen Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten in und am Wasser verloren – und mit ihnen eine Vielzahl von Vorteilen für uns Menschen. Deshalb brauchen wir weltweit deutlich mehr Hochwasserschutzkonzepte mit Mehrfachnutzen für Bevölkerung und Umwelt“, sagt die IGB-Forscherin Sonja Jähnig, Autorin der Untersuchung.

Konventioneller Hochwasserschutz kann falsches Sicherheitsgefühl vermitteln

Bauliche Maßnahmen wie Deiche, Dämme und künstliche Kanäle förderten die städtische und landwirtschaftliche Entwicklung in Gebieten, die eigentlich natürliche Überschwemmungsgebiete seien – den Flussauen. Die dadurch gewonnene Fläche sei durch diese baulichen Maßnahmen seltener von kleinen und mittleren Hochwassern betroffen. Das erwecke häufig den Eindruck, das Hochwasserrisiko sei gebannt. Infolge dieses falschen Sicherheitsgefühls unterschätze die Bevölkerung vor Ort die Gefahr von seltenen großflächigen Überschwemmungen und sei umso anfälliger für deren Folgen. Dieser sogenannte „Deich-Effekt“ (Englisch: levee-effect) stehe beispielhaft dafür, dass einige kurzfristig effektive menschliche Eingriffe in die Landschaft in Wirklichkeit die langfristige Anfälligkeit des gesamten Systems erhöhten, so die Wissenschaftlerin.

Hochwasserschutz mit Mehrfachnutzen wissenschaftlich untersucht

Zwar gebe es weltweit mittlerweile Projekte zur Renaturierung von Flüssen und Auen. Doch nur wenige davon würden so geplant, dass sie gleich mehrere Verbesserungen erzielten, also zum Beispiel das Hochwasserrisiko verringerten, Lebensräume wiederherstellten und die Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel erhöhten.

Das Forschungsteam hat deshalb vier „Multi-Benefit-Projekte“ in Deutschland und in Kalifornien (USA) untersucht und ihre Triebkräfte, die Chronologie sowie die durchgeführten Maßnahmen und Hindernisse charakterisiert. Außerdem analysierten die Forschenden die politischen Rahmenbedingungen, die solche Projekte fördern, ermöglichen und manchmal auch behindern.

Beispiele Deutschland: Deichrückverlegung an der Elbe und große Kiesbänke für die Isar

Als Beispiel für Deutschland untersuchte das Team zum einen die Deichrückverlegung an der Mittelelbe bei Lenzen. Die wissenschaftliche Bestätigung, dass sich der Hochwasserscheitelpunkt lokal um fast 50 Zentimeter verringert habe und die nachgewiesene, weitreichende räumliche Schutzwirkung vor Hochwasser hätten sogar dazu beigetragen, die Akzeptanz von Deichrückverlegungen zu steigern: „Das ist so deutlich bis dato nicht gemessen worden und hat die Position widerlegt, dass Deichrückverlegungen nichts für den Hochwasserschutz bringen. Seitdem sind in anderen Flüssen Deutschlands ähnliche Projekte umgesetzt worden“, sagt Christian Damm vom Karlsruher Institut für Technologie, ebenfalls Autor der Studie. Der ökologische Erfolg des Projekts habe sich an der raschen Rückkehr zahlreicher Wasser- und anderer Vogelarten sowie einer Vielfalt an wiederhergestellten Lebensraumtypen ablesen lassen, so Damm.

Als zweites Projekt untersuchten die Forschenden eine acht Kilometer lange Flussrenaturierung der Isar, die von der südlichen Stadtgrenze Münchens bis zur Innenstadt reicht – den sogenannten Isarplan. Das Projekt zeige, dass Fluss- und Auenrenaturierungen auch in dicht besiedelten, urbanen Gebieten möglich seien. Der Isarplan hatte drei Hauptziele: Minimierung des Hochwasserrisikos, Wiederherstellung von Lebensräumen im Fluss und Verbesserung des Freizeitnutzens. „Der Isarplan veranschaulicht den Mehrfachnutzen-Ansatz und sticht durch einen sehr kooperativen Planungsprozess hervor, in den auch die Bevölkerung aktiv mit eingebunden wurde“, sagt Jürgen Geist, Forscher an der Technischen Universität München und ebenfalls Autor der Studie. Das Hochwasserrisiko sei vor allem dadurch verringert worden, dass dem Fluss mit mindestens 90 statt vorher 50 Metern mehr Raum gegeben worden sei. So habe sich auch die Kapazität im Stadtgebiet, größere Wassermengen abzupuffern, erhöht. Ufersicherungen aus Beton seien entfernt und durch Kiesufer ersetzt worden, wodurch sich Kiesbänke haben bilden können – und damit Laichplätze und Lebensräume für den Huchen (Donaulachs) und andere gefährdete Fischarten.

Beispiele USA:  Wiederherstellung von Ökosystemen waren eigentlich Nebeneffekte

In den USA analysierten die Forschenden die Hochwasser-Bypässe im Sacramento-Flussgebiet. Der Yolo-Bypass sei ein „Auen-Bypass“, eine Art der Hochwasserumleitung mit großer Fläche, langen Verweilzeiten und hohem ökologischem Potenzial.  Der größte Teil der 240 Quadratkilometer großen Fläche befinde sich in Privatbesitz und werde in der Trockenzeit, wenn das Überschwemmungsgebiet weitgehend entwässert sei, landwirtschaftlich genutzt, beispielsweise zum Anbau von Mais, Sonnenblumen und Reis, als Weide- oder Brachland. Die verbleibenden 65 Quadratkilometer seien ein Schutzgebiet, vor allem für Vögel und Fische, erklären die Forschenden. „Der Yolo-Bypass gilt als Modell für ein gut verwaltetes sozial-ökologisches System. Die öffentlich-private Partnerschaft funktioniert gut. Artenschutz, Hochwasserschutz und Landwirtschaft lassen sich in Einklang bringen – und all das in direkter Nähe zu einer Großstadt“, erläutert Sonja Jähnig. „Erfolgreich umgesetzt wurden auch der Deichrückbau und die Auenrenaturierung am Bear und am Feather River, um den lokalen Hochwasserschutz zu erhöhen. Ein zusätzliches niedriges Feuchtgebiet – eine Auenmulde – schaffte zusätzlich überfluteten Lebensraum für heimische Fische und andere wassergebundene Arten“.

In beiden amerikanischen Fällen sei die Verringerung des Überschwemmungsrisikos jeweils der wichtigste Antrieb für das Projekt gewesen – und die Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme sei in einem Fall unbeabsichtigt, im anderen als Voraussetzung für den Erhalt einer öffentlichen Förderung gefolgt.

Erkenntnisse aus dem Projektvergleich: 7 Faktoren, auf die es ankommt

Anhand der vier Fallstudien identifizierten die Forschenden sieben Faktoren, die je nach Ausprägung fördernd oder hemmend für Mehrfachnutzen-Projekte sein können. Dazu zähle Offensichtliches, wie die Verfügbarkeit von (unbebauter) Fläche, die Integration von Forschungswissen in Planungen und Entscheidungsprozesse, passende politische und regulatorische Rahmenbedingungen und ausreichend Finanzmittel. Aber auch gesellschaftliche Faktoren seien entscheidend – z.B. die Wahrnehmung von Überschwemmungen nicht nur als Bedrohung, sondern als positives Element und wichtige Eigenschaft natürlicher Gewässer. Als unabdingbar für den Projekterfolg habe sich auch die zielorientierte Projektführung und konstruktive Einbindung und Zusammenarbeit aller Beteiligten herausgestellt, so das Forscherteam. Auch wenn diese Projekte heute als sehr gute Beispiele erschienen, so seien sie doch erst das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer begünstigender Faktoren gewesen und hätten allesamt engagierte Beharrlichkeit erfordert, um letztendlich realisiert werden zu können, resümieren die Forschenden. „Dies hängt auch damit zusammen, dass es noch vergleichsweise wenig praktisches Erfahrungswissen aus solchen Mehrfachnutzen-Projekten gibt, aber man mit relativ großen administrativen und rechtlichen Hindernissen konfrontiert ist. Deshalb ist es wichtig, gelungene Beispiele genau zu analysieren und die Erfolgs- und Risikofaktoren für andere Akteure aufzubereiten, die solche Projekte ebenfalls realisieren wollen“, erläutert Jürgen Geist von der TU München.

Empfehlungen für Politik und Behörden

Insgesamt kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass ökologischer Hochwasserschutz kosteneffizienter ist, als bisherige Ansätze, großes Synergiepotenzial hat und solche Mehrfachnutzen-Ansätze von Politik und Verwaltung daher verstärkt in Betracht gezogen werden sollten. „Gerade in Deutschland werden Überschwemmungen schnell negativ oder als Risiko gesehen – ihr Wert für Natur und Bevölkerung aber übersehen. In diesem Kontext sind mangelnde Überflutungsflächen häufig ein Diskussionspunkt. Es wäre wünschenswert, wenn die zuständigen politischen und administrativen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen effiziente Ansätze entwickeln würden, um die dafür notwendigen Flächen bereitzustellen“, unterstreicht Sonja Jähnig.

Diese Bemühungen würden auch auf die europäischen und nationalen Umweltziele einzahlen, wie die europäische Hochwasserrisikomanagementrichtlinie, die Wasserrahmenrichtlinie, die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie sowie die EU-Biodiversitätsstrategie — letztere sieht z.B. vor, 25.000 Kilometer Flüsse in Europa zu renaturieren. Das kürzlich vom Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerium vorgestellte Eckpunktepapier zum „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ weise mit den beiden erstgenannten Handlungsfeldern „Schutz intakter Moore und Wiedervernässungen“ sowie „Naturnaher Wasserhaushalt mit lebendigen Flüssen, Seen und Auen“ in die richtige Richtung. Entscheidend sei es laut Sonja Jähnig nun, das Programm so auszugestalten, dass möglichst viele Synergieeffekte erzielt werden können.

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