Europäischer Menschenrechts-Gerichtshof hört Schweizer Frauen an

Vor zweieinhalb Jahren Beschwerde eingereicht

Anhörung vor der Großen Kammer des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshofs zu den Auswirkungen der globalen Erwärmung auf Lebensbedingungen und Gesundheit: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hielt am 29. März 2023 eine Anhörung vor der Großen Kammer in der Rechtssache Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. gegen die Schweiz (Antrag Nr. 53600/20) ab.

Anhörung vor dem EGMR an 07.04.2023 – Screenshot © echr.coe.int

Es geht um die Beschwerde eines Schweizer Vereins und seiner Mitglieder, einer Gruppe älterer Frauen, die über die Folgen der globalen Erwärmung auf ihre Lebensbedingungen und ihre Gesundheit besorgt sind. Eine Aufzeichnung der Anhörung wird am Nachmittag des 29.03.2023 auf der Website des Gerichtshofs verfügbar sein. Nach der Anhörung beginnt der Gerichtshof mit seinen Beratungen, die in nichtöffentlicher Sitzung stattfinden werden. Sein Urteil in der Rechtssache wird zu einem späteren Zeitpunkt ergehen.

Nach Artikel 30 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt: „Wirft eine bei einer Kammer anhängige Rechtssache eine schwerwiegende Frage auf, die die Auslegung der Konvention oder der Protokolle dazu berührt, oder könnte die Entscheidung einer bei der Kammer anhängigen Frage zu einem Ergebnis führen, das mit einem früheren Urteil des Gerichtshofs unvereinbar ist, so kann die Kammer jederzeit, bevor sie ihr Urteil verkündet hat, ihre Zuständigkeit zugunsten der Großen Kammer aufgeben.“

Bei den Klägerinnen handelt es sich zum einen um einen Verein schweizerischen Rechts, der sich mit den Folgen des Klimawandels befasst und dem mehr als 2.000 ältere Frauen (ein Drittel davon mehr als 75 Jahre) angehören, und zum anderen um vier Frauen im Alter von über 80 Jahren, die über gesundheitliche Probleme klagen, die sich bei Hitzewellen verschlimmern und ihren Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigen. Die älteste der vier Frauen, die 1931 geboren wurde, ist seit der Einreichung des Antrags verstorben.

Am 25.11.2016 reichten die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller gestützt auf Artikel 25a des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 20.12.1968 ein Gesuch an den Bundesrat und weitere Behörden ein, in dem sie auf verschiedene Versäumnisse im Bereich des Klimaschutzes hinwiesen und einen Entscheid über zu treffende Maßnahmen verlangten (Realakte). Zudem forderten sie die Behörden auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das im Pariser Klimaabkommen von 2015 (COP21) festgelegte Ziel für 2030 zu erreichen.

Mit Entscheid vom 25.04.2017 erklärte das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) das Gesuch für unzulässig, da die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller nicht direkt in ihren Rechten betroffen seien und nicht als Opfer betrachtet werden könnten. Am 27.11.2018 wies das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde der Beschwerdeführerinnen ab und stellte fest, dass Frauen über 75 Jahre nicht die einzige vom Klimawandel betroffene Bevölkerungsgruppe sind. Mit Urteil vom 05.05.2020, zugestellt am 19.05.2020, wies das Bundesgericht eine Beschwerde vom 21.01.2019 ab. Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerinnen durch die behaupteten Verstöße weder in ihrem Recht auf Leben (Artikel 2 der Europäischen Konvention) noch in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, einschließlich der Wohnung (Artikel 8), hinreichend betroffen sind, um ein schutzwürdiges Interesse im Sinne von Artikel 25a des oben erwähnten Bundesgesetzes von 1968 geltend zu machen.

Verfahren

Die Beschwerde wurde am 26.11.2020 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Am 17.03.2021 wurde die Schweizer Regierung von der Beschwerde in Kenntnis gesetzt und erhielt Fragen des Gerichtshofs. Gleichzeitig beschloss die Kammer, die Rechtssache gemäß Regel 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorrangig zu behandeln.

Die Beschwerdeführer machen geltend, dass der beklagte Staat seiner Pflicht aus der Konvention, Leben wirksam zu schützen (Artikel 2) und die Achtung ihres Privat- und Familienlebens zu gewährleisten, nicht nachgekommen sei, was auch im Lichte der im internationalen Umweltrecht enthaltenen Grundsätze der Vorsorge und der Generationengerechtigkeit zu betrachten sei. In diesem Zusammenhang beklagen sie, dass der Staat es versäumt habe, geeignete Rechtsvorschriften einzuführen und angemessene und ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, um die Ziele zur Bekämpfung des Klimawandels zu erreichen.

Sie beschweren sich ferner darüber, dass sie keinen Zugang zu einem Gericht im Sinne von Artikel 6 der Konvention gehabt hätten, und machen geltend, dass die inländischen Gerichte nicht ordnungsgemäß auf ihre Anträge reagiert und willkürliche Entscheidungen getroffen hätten, die ihre Bürgerrechte beeinträchtigten, insbesondere indem sie ihre besondere Situation der Gefährdung durch Hitzewellen völlig ablehnten. Schließlich rügen die Kläger eine Verletzung von Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) und machen geltend, dass ihnen kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehe, um ihre Beschwerden nach Artikel 2 und 8 einzureichen.

Die Kammer, der die Rechtssache zugewiesen worden war, hat am 26.04.2022 ihre Zuständigkeit zugunsten der Großen Kammer aufgegeben. Folgende Regierungen, Personen und/oder Organisationen wurden als Streithelfer im schriftlichen Verfahren zugelassen:

  • die Regierungen von Österreich, Irland, Italien, Lettland, Norwegen, Portugal, Rumänien und der Slowakei
  • die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte 2018-2022, Michelle Bachelet
  • der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Giftstoffe und Menschenrechte, Marcos A. Orellana, und
  • der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Umwelt, David R. Boyd;
  • die unabhängige Expertin für die Wahrnehmung aller Menschenrechte durch ältere Menschen, Claudia Mahler
  • die Internationale Juristenkommission (ICJ)
  • Europäisches Netzwerk der nationalen Menschenrechtsinstitutionen (ENNHRI)
  • Internationales Netzwerk für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ESCR-Net)
  • Menschenrechtszentrum der Universität Gent
  • Evelyne Schmid und Véronique Boillet, Universität Lausanne
  • Sonia I. Seneviratne und Andreas Fischlin
  • Global Justice Clinic; der Climate Litigation Accelerator (CLX) an der New York University School of Law; Christina Voigt
  • ClientEarth
  • Our Children’s Trust (OCT); Oxfam; Centre for Climate Repair in Cambridge; Centre for Child Law an der Universität von Pretoria
  • Claus Beisbart, Thomas Frölicher, Martin Grosjean, Karin Ingold, Fortunat Joos, Jörg Künzli, Christoph Raible, Thomas Stocker, Ana M. Vicedo-Cabrera, Ralph Winkler, Judith Wyttenbach und Charlotte Blattner, Universität Bern
    Zentrum für Internationales Umweltrecht (CIEL); Margaretha Wewerinke-Singh Sabin Center for Climate Change Law
    Germanwatch; Greenpeace Deutschland; Scientists for Future

->Quelle: echr.coe.int/home.aspx