Wackelkandidaten für die EU-Kommission

Der britische EU-Kommissar und die „nukleare Option“ der Europaabgeordneten
Mit freundlicher Genehmigung von euractiv.de

Vier der vom künftigen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker designierten Kommissare sind noch keineswegs sicher in ihren Ämtern: Sie gelten als „Wackelkandidaten“. Weil das EU-Parlament ihrer Berufung zustimmen muss, müssen sich alle einer Befragung unterziehen. Prominente Fälle auf der Kippe: Der als Energie- und Klima-Kommissar vorgesehene Spanier Miguel Arias Cañete und der Brite Jonathan Hill (Finanzen). Ein Bericht von EurActiv Brüssel.

Wenn Hill bei den Anhörungen im Europaparlament vom 29. September bis 7. Oktober durchfallen würde, käme das einem Experten zufolge „einem nuklearen Angriff gleich“. Marco Incerti, Forscher am Centre for European Policy Studies (CEPS) meint: „So wie ich einige Europaabgeordnete sprechen höre, glaube ich, dass die Ablehnung des einen oder anderen Kommissars nicht undenkbar ist“. Dieser Tonfall sei neu. Für einige Wochen schien es so, als hätte das Parlament mit dem Spitzenkandidatenrennen der Fraktionen das bekommen, was es wollte, meint Incerti.

Am 15.06.2014 hatte das EU-Parlament den Spitzenkandidaten der konservativen EVP-Fraktion, Jean-Claude Juncker, zum neuen Kommissionspräsidenten gewählt. Er erhielt große Zustimmung, auch aus den Reihen der Sozialdemokraten und Liberalen. Sie lobten, wie Juncker in seiner Wahlrede auch auf ihre politischen Prioritäten einging.

Cañete prominenter Fall: Sexist?

„Natürlich gibt es eine Liste mit drei bis vier Namen, die für das Parlament sehr verstörend erscheinen“, sagt Incerti. Ähnliche Vorbehalte hätten in der Vergangenheit zu Ablehnungen geführt. Aus Sicht des Parlaments seien der Spanier Miguel Arias Cañete, Jonathan Hill, der Ungar Tibor Navracsics und die Tschechin Vera Jourová Problemfälle. „Es ist schwer zu sagen, dass das sicher passieren wird. Aber Cañete ist ein prominenter Fall, und nicht so sehr wegen der Anteile an einem Ölkonzern, die er bereits weggab, sondern vielmehr wegen der sexistischen Äußerungen, die das Parlament in der Vergangenheit als ‚casus belli‘ nutzte“, sagt er.

Orbán-Freund Bock zum Gärtner?

Navracsics scheint ein selbstverständliches Ziel der Abgeordneten. Er gilt als enger Verbündeter des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán. Diesem wirft das Parlament immer wieder vor, die individuellen Freiheiten und die Pressefreiheit mit Füßen zu treten. Außerdem wurde Navracsics der schwierige Geschäftsbereich ‚Bürgerschaft‘ zugeteilt. Damit wird er im EU-Kontext zum Hüter der bürgerlichen Freiheiten (der volle Titel des Geschäftsbereichs ist Bildung, Kultur, Jugend und Bürgerschaft). Einige Europaabgeordnete sehen dadurch den Bock zum Gärtner gemacht.

Jourová wegen Korruptionsvorwürfen vier Wochen in U-Haft

Die Tschechin Jourová von der liberalen ANO-Partei war stellvertretende Ministerin für regionale Entwicklung. Ihre Amtszeit endete etwas unglücklich mit Korruptionsvorwürfen. Sie verbrachte einen Monat in Polizeigewahrsam, bevor die Ermittlungen gegen sie letztendlich eingestellt wurden.

Bei Hill stehen die Vorzeichen noch einmal anders. Incerti zufolge finden einflussreiche Europaabgeordnete das ihm zugeteilte Portfolio Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmärkte unpassend. Das sei kein Geschäftsbereich für ein Land mit Plänen wie es sie das Vereinigte Königreich habe.

Ablehnung Hills würde Neuzuschnitt der Kommissariate provozieren

„Hill abzulehnen wird wie eine nukleare Option sein“, sagt Incerti. Eine Ablehnung könnte weitreichende Konsequenzen für Junckers Bemühungen haben, das Vereinigte Königreich in der EU zu halten. Außerdem würde eine Ablehnung eine weitere Umstrukturierung der Kommission erfordern – was wiederum mehr Zeit und Anstrengungen erfordert. Eine Ablehnung Hills hieße als Botschaft, dass dieses Portfolio nicht für einen britischen Kommissar bestimmt wäre. In diesem Fall müssten die Geschäftsbereiche umverteilt werden.

„Einen britischen Kommissar abzulehnen, kann zum Bumerang werden. Das ist nicht so, wie jemanden aus Tschechien abzulehnen. Und nicht, weil es Jourová ist, sondern weil es Tschechien ist, sie [die Abgeordneten] hätten weniger Angst vor einem Streit über ihren Namen“, sagt Incerti. Sollte das Parlament einen „Skalp“ haben wollen, sei ihrer einfach zu bekommen. Doch auch Navracsics und Cañete seien dieser Kategorie zuzuordnen.

Autor: James Crisp, aus dem Englischen übersetzt von Alexander Bölle.
Originaltext: euractiv.com/analyst-meps-rejecting-hill-tantamount-nuclear-option
Veröffentlicht am 24.09.2014 auf euractiv.de