Die Chemie und die Energiewende
Faktor Chemie: Derzeit erfüllt die Energiewende nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Die mangelnde Integration der Stromerzeugung ist eine wesentliche Ursache dafür. Die Chemie spielt eine zentrale Rolle bei der Lösung dieser systemischen Aufgabe – schreibt Robert Schlögl in der neuen Ausgabe von Angewandte Chemie unter dem Titel Energiewende 2.0. Solarify bringt eine Leseprobe.
Die Energiesysteme der Welt sind einem stetigen Wandel unterworfen. Dieser folgt aus Entwicklungen des Rohstoffangebotes, technologischen Entwicklungen bei Wandlung, Verteilung und Nutzung von Energie und aus sich verändernden gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Ansprüchen. Selten gab es den Versuch, auf diese Entwicklung bewusst Einfluss zu nehmen. Genau dies hat sich die deutsche „Energiewende“ als nationaler Alleingang zum Ziel gesetzt. Die Reaktorkatastrophe im Jahr 2011 hat diesem Weg durch den Atomkraftausstieg einen Impuls gegeben, sie hat ihn jedoch weder verursacht noch verändert.
Die Energiewende 1.0 sieht vor, zusätzlich zum Atomausstieg in einer Doppelstrategie aus Technologieförderung für erneuerbare Energien (EE) und gesetzlichen Maßnahmen in den Verbrauchssektoren Wärme und Mobilität einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Dies soll durch [[CO2]]-neutrale Bereitstellung von elektrischer Energie und Absenkung des Primärenergiebedarfes über das gesamte Energiesystem hinweg erreicht werden. Dieser Ansatz ist dann sinnvoll im Hinblick auf das letztliche Ziel Klimaschutz, wenn es gelingt, zumindest auf EU-Ebene ähnliche Maßnahmen einzuleiten und wenn das Beispiel in Form von Technologien und als Handlungsempfehlung an die Politik international exportiert werden könnte. Die inzwischen erfolgte, breite Diskussion hat Zweifel an diesen Annahmen geweckt und zusammen mit einer öffentlich sehr verengten Wahrnehmung der „Kosten der erneuerbaren Energien“ die anfänglich breite Zustimmung zur Energiewende erheblich abgeschwächt. Ein „Masterplan“ wird gefordert.
Der dynamische Charakter des Energiesystems und das Einwirken vieler Faktoren, die von einem nationalen Masterplan nicht steuerbar sind, machen einen derartigen Plan illusionär. Gebraucht wird vielmehr ein geordneter und andauernder Diskurs in der Gesellschaft über die Entwicklung des Energiesystems, aus dem berechenbar funktionierende Rahmenbedingungen durch die Politik abgeleitet werden.
Nationale oder gar regionale Alleingänge sind dabei dem Ziel „Klimaschutz“ abträglich, weil ihre Regelungsdichte die nötige Flexibilität für zumindest europäische Lösungen einschränkt, ohne die keine nennenswerten quantitativen Verbesserungen im Klimaschutz erreichbar sind. In diesem Fall verpuffen die gut gemeinten und oft erheblichen wirtschaftlichen Anstrengungen.
Ständige Überprüfung und Kontinuität in der Lenkung der über lange Zeiten erfolgenden Wandlung des Energiesystems sind Voraussetzungen für das notwendige wirtschaftliche Engagement und die dauerhafte Teilhabe der Bevölkerung, welche die eigentliche Zielgruppe der Energiewende sein muss. Die Industrie nimmt derzeit eine abwartende bis ablehnende Haltung ein und beklagt Belastungen – sie bemüht sich aber nicht erkennbar, konstruktiv in den Prozess einzugreifen, der enorme Chancen mit sich bringt, wenn er auf realistische Ziele hin bezogen und nicht ideologisch gesteuert wird. Derzeit herrschen punktuelle und technologiebezogene Regelwerke vor, die unerwünschte systemische Antworten wie erhöhte [[CO2]]-Emissionen trotz erheblicher EE-Strombereitstellung bewirken, und die breite Diskussion verbeißt sich in Details wie derzeit mit der Kosten- und Marktsituation in der Stromversorgung.
Der Energiemarkt für Privatkunden ist wesentlich größer als der für Industriekunden. Auf beide Märkte wirkt die EEG-Umlage mit Signifikanz ein. Allerdings ist die Stromrechnung für Industriekunden nur in einer überschaubaren Anzahl von Fällen, z.B. in der chemischen Industrie, größer als 3% der Produktionskosten. Dies wurde mit den Befreiungen von der EEG-Umlage intensiv thematisiert. Auch für viele Privatkunden ist die Stromrechnung ein untergeordneter Betrag neben anderen Ausgaben für Energie. Die Kosten des Stromes und seiner Verteilung für Privatkunden sind etwa gleich hoch wie die anteiligen Steuern und Abgaben darauf.
Man erkennt, dass die Stromkosten ein erkennbarer, aber untergeordneter Faktor im Energiesystem sind und dass sich die Diskussion daher wieder übergeordneten Aspekten der Energiewende annehmen sollte. Eine solche Erweiterung der Diskussion und auch des Handelns auf die systemische Ebene der Energieversorgung ist mit der Bezeichnung „Energiewende 2.0“ gemeint. Die internationale Gemeinschaft, die das Fortschreiten der Energiewende in Deutschland intensiv beobachtet, wäre enttäuscht, wenn wir bei der derzeitigen Situation stehen blieben, was sich sicher nachteilig auf den Klimaschutz auswirken würde.
© 2015 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
Robert Schlögl ist Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion, Mülheim a.d. Ruhr, und am Fritz-Haber-Institut der MPG, Berlin.
->Quellen:
- Robert Schlögl: Energiewende 2.0, in: Angewandte Chemie -Vol. 127 Issue 10 – 2015 – DOI: 10.1002/ange.201405876
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