Was bleibt von Tschernobyl und Fukushima

Tschernobyl: die Katastrophe breitet sich immer noch aus

Irina Gruschewaja, die  Geschäftsführerin des Internationalen Rates Zukunft für die Kinder von Tschernobyl, nannte Tschernobyl „eine Weltkatastrophe – viele Menschen wussten gar nicht, dass an diesem Tag ihr Leben in zwei Teile geteilt wurde: in das Leben vor – und das leben nach Tschernobyl. Aber womit wir nicht gerechnet haben: das Leben mit Tschernobyl“. Dieser Weg, auf dem wir alle zusammen seien, verlange viel Mut. Denn die Katastrophe breite sich immer noch aus. „Viele wollten das nicht wahrhaben – denn der Mensch will etwas, das sein Leben zerstört, nicht wahrhaben, er klammert sich an Trost und Beschwichtigung.“

Irina Gruschewaja mit Weißrusslandkarte- Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft

Irina Gruschewaja mit Weißrusslandkarte– Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft

Gruschewaja kommt aus Weißrussland – immer wieder wird sie gefragt: Was hat den Tschernobyl mit Weißrussland zu tun? Das war doch in der Ukraine! „Aber Radioaktivität macht keinen Halt vor Ländergrenzen“, sagt sie, ihre nördlich von der Ukraine liegendes Land habe es getroffen, Weißrussland hat 72 Prozent der Radioaktivität abbekommen – es gebe kaum Berge, das Land sei flach – sie zeigt eine Karte: „Die braunen Stellen zeigen keine Berge sondern Radioaktivität. 23 Prozent der Fläche Weißrusslands ist ewig verseucht. Radioaktivität dringt pro Jahr 1 cm in die Erde ein, in die Pflanzen, wir bekommen die Pflanzen, Kinder spielen am Boden.“ Das Tückische sei, dass man Radioaktivität nicht sehen könne, nicht schmecken, nicht riechen – nicht einmal die Folgen könne man sofort sehen. „Die radioaktiven Zeitbomben für die Zellen machen eine zerstörerische Arbeit, erzeugen kein normales Strahlenkrankheitsbild. Die niedrigen Radioaktivitäts-Dosen, die tagtäglich in den Körper aufgenommen werden, sind gefährlich. Studien berichten inzwischen über die Niedrigstrahlung.“ Aber viele nähmen die nicht ernst.

Es sei halt eine andere Frage, ob man das wahrhaben wolle – die Menschen erkrankten eben an scheinbar „normalen“ Krankheiten. „Wenn ein Organ ständig unter Belastung eines Radionukleids arbeiten muss, wird der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen. Im Zeitpunkt des Todes sieht das aber aus wie eine normale, symptomlose Krankheit.“

„Tschernobyl ist nicht vorbei“

Der infolge des Super-GAUs von Tschernobyl eingetretene Schaden wird oft beziffert: 90 Hiroshima-Bomben sagen die einen – andere kommen auf 300. Dabei hätte eine einzige ausgereicht. Zum Beispiel das Cäsium: Der Körper unterscheide nicht zwischen Kalium und Cäsium, letzteres werde angereichert und lande in Herzen und Muskeln, zwanzig Mal mehr als in anderen Organen. „Die allwissende Wissenschaft schickt uns Geigerzähler, dann Ganzkörperzähler, sie beruhigt uns – aber niemand sagt uns wirklich, wie die Strahlung gespeichert wird und was daraus folgt.“ So verdoppeln Transurane, etwa aus Plutonium, laut Gruschewaja ihre Wirkung 65 Jahre nach der Katastrophe, das dauere 250 Jahre lang. Bis heute se das keine allgemeine Erkenntnis. Bis heute glaubten alle, Tschernobyl sei vorbei, „aber das stimmt nicht“.

Der Super-GAU von Tschernobyl kostete angeblich 320 Milliarden Dollar. „Aber seit Fukushima wissen wir, dass Geld nichts retten kann.Wo sollen die Menschen denn hin? Wo sollen 30 Millionen Japaner hin? In Russland sind 3o Atomkraftwerke im Bau – in Weißrussland wird auch eins gebaut, dort, wo die Folgen von Tschernobyl noch nicht beseitigt wurden, einfach, weil sie nicht beseitigt werden können.“

Gruschewaja: „Tschernobyl steht für drei Symbole:

  1. für die globale Lüge über die friedliche Nutzung der Atomenergie zur Wohlstandsmehrung – die zu einem Krieg führt, der sich in die Körperzellen ins Immunsystem verlagert;
  2. für den Glauben an den guten Staat, der alles im Griff hat und die Bürger schützt; auch demokratische Staaten versagen angesichts der Atomkraft;
  3. aber auch für das Engagement der Bürger, die wach werden, andere wachrütteln, zur Selbsthilfe schreiten, zur Selbstrettung – für gesunde Nachkommen.

Wir wollen mit der Hoffnung leben: In Minsk haben wir zum 10. Jahrestag Obstbäume im Garten der Hoffnung rund um die Gedenk-Kirche für die Tschernobyl-Opfer gepflanzt. Symbole sind wichtig, weil Atomkraft ebenso unsichtbar ist wie das Rettende, unsichtbar wie die Glut und die Energie des Herzens, wie Empathie, Mitgefühl und Wut.“

Autor und ©: Gerhard Hofmann