Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft

Kommentar von Christian von Hirschhausen – mit freundlicher Genehmigung

Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, um 1:24 Uhr in der Nacht, explodierte der Reaktordruckbehälter im Block 4 des sowjetischen Atomkraftwerks „W. I. Lenin“ in Tschernobyl, an der Grenze zwischen der ukrainischen und der weißrussischen Sowjetrepublik. Das schwerste Reaktorunglück in der Geschichte der Atomkraft entstand aus einer Mischung falsch ausgelegter Anlagen und menschlicher Fehler bei deren Betrieb. Die ausgetretene Radioaktivität machte die Gegend für tausende von Jahren unbewohnbar und zog über Weißrussland auch nach Skandinavien und Mitteleuropa. Niemand, der diese Tage im Frühling 1986 bewusst erlebt hat, wird die Ungewissheit, die Hilflosigkeit der Politiker – von Michail Gorbatschow bis zum deutschen Innenminister Friedrich Zimmermann – und die Machtlosigkeit vor dem unkontrollierbaren Atom vergessen.

In ihrem Buch „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ lässt Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin 2015, Zeit zeugen zu Worte kommen, welche den Tag, die dramatischen Rettungsaktionen danach sowie die brutalen Folgen über Monate und Jahre miterlebt haben. Die Autorin interessiert dabei nicht das große Ganze, die weltgeschichtliche Bedeutung, die technischen Details; vielmehr beschäftigt sie die „weggelassene Geschichte“ der Menschen, die Alltäglichkeit von Gedanken, Gefühlen, Worten: Sogenannte „Liquidatoren“, die 60; 90 oder auch 120 Sekunden auf dem Dach des offenen Reaktors aufräumen mussten, und Tage oder Monate danach der Strahlung zum Opfer fielen; Feuerwehrmänner, Soldaten und Wissenschaftler, die, ebenfalls unter Einsatz ihres Lebens, versuchten, die Explosion des gesamten Komplexes einschließlich der Reaktoren 1 bis 3, zu verhindern; Rückkehrer, Väter, Mütter, Frauen, Fotographen, Journalisten, etc., die über die Zukunft sprechen.

„Die Nacht des 26. April 1986 … In einer Nacht gelangten wir an einen neuen Ort der Geschichte. Wir sprangen in eine neue Realität, und diese Realität überstieg nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Einbildungskraft. Der Zusammenhang der Zeiten riss, … die Vergangenheit war plötzlich hilflos, auf nichts darin konnten wir uns stützen, im allwissenden (wie wir glaubten) Archiv der Menschheit gab es keinen Schlüssel, der diese Tür hätte öffnen können.“ (S. 41).

30 Jahre später fällt es einfacher, die Katastrophe von Tschernobyl auch in die große Geschichte einzuordnen. War durch den fast ­GAU in Harrisburg (USA) 1979 sowie eine Vielzahl weiterer Pannen das Image der Atomkraft schon abgenutzt, wurde es durch Tschernobyl endgültig zerstört. Seitdem erfolgte kein nennenswerter Zubau von Atomkraftwerken in der westlichen Welt mehr; der Mythos von der „ kostengünstigen Atomkraft“ war endgültig zerstört. In Moskau, dem man tagelang konkrete Informationen aus Tschernobyl vorenthalten hatte, trug der Vorfall zum Machtverlust der herrschenden kommunistischen Partei bei, und die Ereignisse der politischen Wende 1989–1991 hätte es in dieser Form ohne Tschernobyl auch nicht gegeben.

Die Tschernobyl-Zeitzeugen klagen nicht an, sondern spiegeln vielmehr die totale Fassungslosigkeit gegenüber dem „Atom“ wieder. Swetlana Alexijetwisch führte dieses zu einer Erkenntnis, die uns heute das Verständnis der Atomkraft, insbesondere in politisch instabilen Ländern, wesentlich erleichtert, und für die Zukunft bemerkenswert ist: „Vermutlich wären wir eher mit einer atomaren Kriegssituation wie in Hiroshima fertig geworden, darauf waren wir vorbereitet. Aber die Katastrophe geschah in einem nichtmilitärischen Atomobjekt, und wir waren doch Kinder unserer Zeit und glaubten, wie wir es gelernt hatten, die sowjetischen Atomkraftwerke wären die sichersten der Welt, so sicher, dass man sie sogar auf den Roten Platz stellen könne. Das kriegerische Atom, das waren Hiroshima und Nagasaki, das friedliche Atom dagegen war die Glühbirne in jedem Haushalt. Niemand ahnte, dass das kriegerische und das friedliche Atom Zwillinge sind. Komplizen. Inzwischen sind wir klüger, die ganze Welt ist klüger geworden, aber erst nach Tschernobyl.“ (S. 42)

Christian von Hirschhausen - Foto ©privat

Prof. Christian von Hirschhausen – Foto ©privat

[note Prof. Dr. Christian von Hirschhausen ist Forschungsdirektor für Internationale Infrastrukturpolitik und Industrieökonomie am DIW Berlin. Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder.]