Keiner haftet für Grenz-GAU

Klagen im Verursacher-Land

Rein rechnerisch würden die Geschädigten im Raum Aachen bei einem Unfall im AKW Tihange nur ein Prozent ihres Schadens ersetzt bekommen. Und aus Berlin käme gar nichts – darauf weist Reuster hin: „Im Prinzip haben die Geschädigten gegenüber dem deutschen Staat keinen Anspruch auf Entschädigungen. Der deutsche Staat hat keine Verpflichtungen gegenüber den Geschädigten.“ Um ihre ohnehin geringen Ansprüche geltend zu machen, müssten die Geschädigten auch noch vor die Gerichte des jeweiligen Verursacher-Landes ziehen. Jeder Autofahrer hätte es nach Ansicht der Autoren bei einem Unfall mit einem Gegner aus der EU leichter.

Eine ebenfalls von Greenpeace Energy beauftragte juristische Expertise zeigt, dass angesichts der hohen zu erwartenden Schäden eines grenznahen Atomunfalls die Geschädigten nach dem aktuellen internationalen Atomhaftungsrecht keine Aussicht auf substanzielle Entschädigung hätten. „Die Bürger können ebenso wie die Unternehmen, der Bund, die Länder und die Gemeinden Schadensersatzansprüche nur gegenüber dem Betreiber des havarierten AKW vor den Gerichten des Staates geltend machen, in dem sich das AKW befindet“, sagt Hartmut Gaßner, Jurist mit Tätigkeitsschwerpunkt Atomrecht und Gründungspartner der Berliner Kanzlei Gaßner, Groth, Siederer & Coll. „Ist bei einem großen Unfall die Haftungsgrenze überschritten, hängt es von den innerstaatlichen Regelungen ab, wer wieviel von der jeweiligen Haftungssumme erhält – und ob für ihn überhaupt etwas davon übrig bleibt“, so Gaßner.

34 europäische AKW in problematischer Nähe

Laut FÖS-Studie besteht jedes Jahr global eine Wahrscheinlichkeit von einem Prozent, dass ein nuklearer Unfall mit einem Schadensumfang von mindestens 312 Milliarden Euro eintritt. Bei einem Katastrophenfall in mindestens fünf sehr grenznahen Atomkraftwerken – Fessenheim und Cattenom in Frankreich sowie den Meilern Leibstadt, Beznau und Gösgen in der Schweiz – müsste auf deutscher Seite unbedingt evakuiert werden. Je nach Art des Unfalls und den meteorologischen Bedingungen können Evakuierungen laut FÖS-Studie auch bis zu einer Entfernung von rund 600 Kilometern vom Unfallort nötig werden. In diesem Radius befinden sich derzeit 34 europäische AKWs, die zwischen 30 und 50 Jahre alt sind.

Zumindest für den Bereich der EU bietet das geltende Unionsrecht nach Ansicht der Autoren beider Studien sogar weitergehende Rechte als die Abkommen zur Atomhaftung. Deutschland, so die Empfehlung, sollte daher spätestens nach dem Vollzug des Atomausstiegs die Kündigung dieser Abkommen prüfen. Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) hingegen sieht als Konsequenz aus den jüngsten Studien nur eine wirklich effektive Lösung: „Diese Dinger sind nicht zu versichern. Und das kann nur einen Schluss am Ende bedeuten: Weil es dafür keine Versicherung gibt und die Schäden auch nicht behoben werden können – das geht in die zig Milliarden -, müssen die Kraftwerke abgeschaltet werden, dringend!“

Hintergrund: Die Energiegenossenschaft Greenpeace Energy engagiert sich seit Jahren gegen den Bau von Atomkraftwerken in Europa, da diese nicht nur ein erhebliches ökologisches Risiko darstellen, sondern aufgrund hoher Subventionen den Wettbewerb auf dem europäischen Energiemarkt zu Lasten erneuerbarer Energien verzerren. Eine Klage der Energiegenossenschaft gegen die von der EU-Kommission bewilligten Milliardensubventionen für das AKW Hinkley Point C in Großbritannien wird derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt. Im Beihilfeprüfverfahren der Kommission zum geplanten AKW Paks II in Ungarn hatte Greenpeace Energy Einspruch gegen die geplanten ungarischen Subventionen eingelegt.

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