Keiner haftet für Grenz-GAU

Studien belegen mangelhafte Absicherung grenznaher Atomunfälle

Doel, Fessenheim, Temelin – Deutschland ist umgeben von alten Atommeilern. Entsprechend wächst die Sorge vor einem schweren Unfall. Neue Studien zeigen nun: Die Opfer eines Super-GAU würden nach heutiger Rechtslage weitgehend auf den Schäden sitzen bleiben. Denn die AKW jenseits von Deutschlands Grenzen sind allesamt nicht ausreichend versichert.  Zu diesem Ergebnis kommen Analysen des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) sowie des Berliner Anwalts Hartmut Gaßner im Auftrag des Ökoenergieanbieters Greenpeace Energy.

Kosten eines Super-GAU übersteigen internationale Haftungsgrenzen um das Hundert- bis Tausendfache

Laut S übersteigen die zu erwartenden Kosten eines großen nuklearen Unfalls die geltenden Haftungsgrenzen für europäische Staaten und dort tätige AKW-Betreiber um das Hundert- bis Tausendfache. So lägen die wahrscheinlichen Kosten für einen Super-GAU in Europa bei 100 bis 430 Milliarden Euro, während die international vereinbarte Haftungs- und Deckungsvorsorge meist auf dreistellige Millionenbeträge begrenzt sei.

Sönke Tangermann, Vorstand bei Greenpeace Energy, nennte4 es einen „Skandal, dass Europas Atomkonzerne und Regierungen im Ernstfall die Geschädigten auf dem größten Teil des Schadens sitzen lassen dürfen“. So erforderten die in Paris, Brüssel und Wien geschlossenen internationalen Haftungsübereinkommen laut FÖS-Analyse Deckungsvorsorgen von maximal 381 Millionen Euro. Selbst die höchsten vom Kraftwerksbetreiber vorzuhaltenden  Vorsorgesummen in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz betrügen jeweils nur rund eine Milliarde Euro und decken somit nur ein Hundertstel der zu erwarteten Unfallkosten ab. Zudem sei in allen europäischen Staaten außer Deutschland und der Schweiz die Haftung der Kraftwerksbetreiber begrenzt – zumeist auf die Höhe der von ihnen vorzuhaltenden Vorsorgesummen.

Tschernobyl und Fukushima mahnen

„Gerade der Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mahnt, dass die bei einem Unfall freigesetzte Strahlung vor Grenzen nicht haltmacht“, so Tangermann. Die unzureichenden Haftungsregelungen sind nach Ansicht des Greenpeace-Energy-Vorstands besonders problematisch, da zahlreiche europäische Staaten weitere Atomkraftwerke planen. So sei etwa am ungarischen AKW-Standort Paks der Bau von zwei Reaktoren russischer Bauart vorgesehen. Käme es in Paks, 440 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, zu einem schweren Unfall, überstiegen dessen geschätzte Folgekosten die von ungarischer Seite bereitgestellte Entschädigung um rund das 180-fache.

„Die internationalen Übereinkommen sollten dringend neu verhandelt, die Haftungshöchstgrenzen abgeschafft sowie die erforderliche Deckungsvorsorge der AKW-Betreiber deutlich angehoben werden“ empfiehlt FÖS-Studienautorin Lena Reuster. Reusters Berechnungen zeigen, dass ein Super-GAU wie der in Tschernobyl oder Fukushima, Kosten in Höhe von 100 bis 400 Milliarden Euro verursachen würde. Haften müssten die AKW-Betreiber jedoch in den meisten Staaten nur bis zu einer Obergrenze von nicht ganz einer Milliarde, lediglich in Belgien und den Niederlanden seien es 1,2 Milliarden Euro.

Tangermann: „Deutschland sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, aus den bestehenden Haftungsverträgen auszusteigen, um bei grenznahen Atomunfällen nicht durch völlig unrealistische Haftungshöchstgrenzen daran gehindert zu sein, die tatsächlich entstandenen Schäden bei den Verursachern geltend machen zu können.“

Folgt: Klagen im Verursacher-Land