EU-Klage gegen Berlin kaum aufzuhalten

5-800.000 Euro Strafe pro Tag drohen

„Die Signale stehen auf Klage“ titelte das Neue Deutschland, und: „Beim Stickoxidgipfel konnte Deutschland nicht erläutern, wie man die EU-Grenzwerte einhalten will“.  Deshalb hat die EU-Kommission am 30.01.2018 Deutschland und weitere neun Mitgliedstaaten ultimativ aufgefordert, gegen die Luftverschmutzung aktiv zu werden – sonst werde die Union sie vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen – ein Schritt, der allerdings kaum noch zu umgehen sein dürfte. Ursache: Untätigkeit der EU-Staaten, aber auch der Kommission selbst.

Dampf, Rauch und CO2 im Berliner Norden – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Umweltministerin Barbara Hendricks hat um eine längere Frist gebeten als bis Ende der Woche, denn sie weiß natürlich, dass es Maßnahmen, die von heute auf morgen die Luft in den Ballungszentren bessern könnten, nicht gibt. Deutschlands Problem seien fast sechs Millionen Diesel-Pkw, die noch bis Ende 2016 nach der Euro-5-Abgasnorm zugelassen worden sei. „Man kann nicht einfach sagen, verschrottet die mal“, sagte Hendricks. Stattdessen müssten die Motoren umgerüstet werden. Eine nachträgliche Ausstattung mit einer funktionierenden Adblue-Technologie könnte „die Stickoxide wirklich vermindern“, sagte Hendricks. Bezahlen sollen das die Verursacher, also Hersteller. Bisher haben die sich aber geweigert nachzurüsten.

„EU-Verschmutzungsparadiese bekommen eine letzte, ultimative, allerletzte Chance“

Von Sam Morgan auf EURACTIV (übersetzt – Ausschnitte)

Giftige Luft tötet in der ganzen Europäischen Union vorzeitig 400.000 Menschen. Deshalb wurden die Umweltminister nach Brüssel gerufen – weil sie die entscheidende Chance haben sollten, entweder sich zu erklären oder gerichtliche Schritte zu gewärtigen. Aber sie scheinen nichts weiter als einen Klaps auf die Hand bekommen zu haben. Neun Minister aus den Mitgliedsstaaten, die seit einiger Zeit gegen die Luftqualitätsgesetze verstoßen, holten sich am 30.01.2018 vom EU-Umweltchef eine Standpauke ab.

Das Treffen war vom maltesischen Umwelt-Kommissar Karmenu Vella in letzter Minute einberufen worden – der hatte es nämlich satt, alte Regeln zu brechen, nachdem Polen den EU-Ratsvorsitzenden Bulgarien davon überzeugt hatte, sich der Klage gegen EU-Rechtsvorschriften zum Schutz der menschlichen Gesundheit anzuschließen. Und nachdem Vella bestätigt hatte, dass rechtliche Schritte eine Option seien, wenn die Antworten nicht kämen oder nicht befriedigend ausfielen, war es recht und billig zu erwarten, dass das eine oder andere aus der heutigen Sitzung herauskäme. Kam es aber nicht.

Vella merkte kritisch an, dass die Vorschläge, die bei dem Treffen auf den Tisch gelegt wurden, „nicht substanziell genug waren, um das Gesamtbild zu verändern“, sondern in den nächsten Tagen von seinen Beamten analysiert würden. Auf den ersten Blick hat das Treffen nichts anderes bewirkt, als die EU-Minister daran zu erinnern, dass sie bei der Einhaltung der Verordnung kläglich versagen. Die Minister hatten am 30.01.2018 Zeit, sich zu rechtfertigen und Lösungen vorzuschlagen. Diese Ideen werden von der EU-Generaldirektion Umwelt (ENVI) geprüft, und sie haben eine Woche Zeit, weitere Vorschläge einzureichen.

Maltas EU-Mann bestand auch darauf, dass der Ruf nach Brüssel keine persönliche Initiative war, sondern von „Präsident Juncker und 500 Millionen Europäern“ unterstützt worden sei, ein Hinweis, der vielleicht so ernst genommen wird, wie es das Berlaymont hofft. Vella versicherte auch, dass er nicht trödeln oder die einfache Option ergreifen werde, indem er den Fall einfach an seinen Nachfolger im nächsten Jahr übergibt (falls er nicht versuchen wird, als Umweltkommissar weiterzumachen).

Das mag der springende Punkt sein: Die Kommission war als lahme Ente verspottet worden, jetzt, da sie in die Zielgerade ihres Mandats einbiegt. Aber ich würde sagen, die Situation ist ganz anders: Wir sind jetzt fest im Modus der Vermächtnisbildung. Und die Verbesserung der Luftqualität oder zumindest die Bestrafung derjenigen, die in dieser Hinsicht nicht genug tun, ist eine Möglichkeit dazu. Seien Sie also nicht überrascht, wenn in den kommenden Wochen einige (oder alle) der „Naughty Nine“ von dem leise sprechenden Malteser mit einer saftigen Klage überzogen werden.

Erklärung von Kommissar Karmenu Vella im Anschluss an das Ministertreffen zum Thema Luftqualität im Wortlaut

Die jetzige Kommission hat immer wieder erklärt, dass sie in „großen“ Fragen „groß“ handeln will. Und was gibt es Größeres als den Verlust von Menschenleben durch Luftverschmutzung? Zu allererst möchte ich betonen, dass ich die Ministerinnen und Minister nach Brüssel eingeladen habe, weil mein vorrangiges Anliegen, ja, das vorrangige Anliegen dieser Kommission, der Schutz der Bürgerinnen und Bürger ist. Wenn ich „Bürgerinnen und Bürger“ sage, meine ich diejenigen, denen es bereits schlecht geht, und alle anderen, die gefährdet sind. Kinder mit Asthma und ihre Eltern. Eltern mit obstruktiven Lungenerkrankungen und ihre Kinder. Diese Sorge wurde von den Ministerinnen und Ministern geteilt. Ich möchte ihnen dafür danken, dass sie einer so kurzfristigen Einladung gefolgt sind. Und ich möchte ihnen danken, dass sie wie ich der Meinung sind, dass der Schutz der Bürgerinnen und Bürger Vorrang hat. Außerdem haben sich die Ministerinnen und Minister darüber verständigt, dass Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung effektives Handeln erfordert, was bedeutet, dass der Prozess eingehalten werden muss, der dies gewährleistet.

Jedes Jahr kommt eine erschreckend hohe Zahl von Menschen durch Luftverschmutzung ums Leben. Wir wissen dies seit Jahrzehnten, und fast ebenso lange gibt es schon Luftqualitätsgrenzwerte. Und dennoch sterben noch immer, auch im Jahr 2018, jährlich 400 000 Menschen vorzeitig, weil das Problem massiv und in großem Umfang vernachlässigt wird. Und viele weitere leiden unnötigerweise unter Krankheiten, die mit der Luftqualität zusammenhängen. Ich bin sicher, dass diejenigen, die beim Treffen heute Vormittag anwesend waren, meine Frustration darüber teilen, dass in den Mitgliedstaaten und anderen Ministerien nicht immer ein Gefühl der Dringlichkeit besteht.
Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass es sich hier nicht um eine rein persönliche Initiative handelt. Das heutige Treffen fand mit voller Unterstützung nicht nur von Präsident Juncker, sondern auch von 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern statt. Wir wollen uns auch als Kollegium mit diesem Problem befassen – mit dem ganzen Ernst, den es erfordert. Die in der Rede zur Lage der Union eingegangene Verpflichtung zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger lässt sich nicht klarer verdeutlichen als durch den Schutz der Luft, die die Menschen atmen.

Und drittens sei an den laufenden rechtlichen Prozess erinnert. Die Fristen für die Erfüllung der rechtlichen Verpflichtungen sind längst abgelaufen. Und manche sagen, dass wir bereits zu lange gewartet haben. Wir dürfen aber nicht länger zaudern. Dies habe ich den Ministerinnen und Ministern heute Vormittag sehr deutlich zu verstehen gegeben.
Ich möchte betonen, dass ich die Umweltminister als meine wichtigsten Verbündeten betrachte, um die Situation umzukehren, indem unverzüglich alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen werden. So wie der Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger eine der Hauptprioritäten für Präsident Juncker und das gesamte Kommissionskollegium ist, muss es auch für die Regierungen der Mitgliedstaaten und alle betroffenen Ministerinnen und Minister in den Bereichen Verkehr, Energie, Industrie, Landwirtschaft oder Finanzen zu einer Schlüsselpriorität werden. Unsere gemeinsame Glaubwürdigkeit hängt davon ab.

Bei unserem Austausch gab es einige positive Vorschläge. Auf den ersten Blick gingen diese aber nicht weit genug, um am Gesamtbild etwas zu ändern. Ohne neue und wirksame Maßnahmen werden die Luftqualitätsnormen in vielen Fällen über Monate und Jahre weiter überschritten, sogar weit über 2020 hinaus. Angesichts eines so lange währenden Versäumnisses, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen, und der Tatsache, dass der laufende rechtliche Prozess fortgesetzt wird, fordere ich alle Mitgliedstaaten auf, dieses lebensbedrohende Problem mit der gebotenen Dringlichkeit zu behandeln.
Untätigkeit hat Folgen. Sie hat Folgen für die Bürgerinnen und Bürger und die verschmutzte Luft, die sie einatmen. Die Mitgliedstaaten tragen eine Verantwortung. Die Verantwortung, zu handeln. Untätigkeit hat auch rechtliche Folgen für die betreffenden Mitgliedstaaten. Die Ministerinnen und Minister wurden sowohl an diese Verantwortung als auch an die rechtlichen Folgen erinnert.

->Quellen: