„Am toten Punkt“ und „Frühlingserwachen“

Zwei Artikel des  britischen Journalisten Paul Mason im Onlinejournal Internationale Politik und Gesellschaft (IPG)

Der britische Fernsehjournalist und Buchautor („Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie„) Paul Mason beschreibt in „Am toten Punkt“ den Realitätsverlust der Eliten wahrnehmen können. Das bezieht er vor allem darauf, dass erstmals in der Geschichte des industriellen Kapitalismus eine große Volkswirtschaft [die USA] in Friedenszeiten einen Schuldenberg anhäufe, für dessen Abbau es keine realistischen Möglichkeiten gebe. Und darauf, dass wir neben dem Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft auch eine schnelle Umgestaltung des Systems bräuchten. Ob wir bereit seien, den politischen Einfluss der konventionellen Energiewirtschaft und der steuervermeidenden Finanzindustrie zu zerstören? Am Beispiel Barcelonas zeigt er im zweiten Text (Frühlingserwachen“), wie europäische Metropolen Antworten auf die Krise des Kapitalismus  geben.

– Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Am toten Punkt
Wir sind überschuldet und süchtig nach Kohlenstoff. Der Kapitalismus ist am Ende.

Von Paul Mason (en.wikipedia.org/ Paul_Mason) 28.02.2019

Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem der Eindruck von Realitätsverlust bei den Eliten allgegenwärtig geworden ist. Der offizielle Diskurs wird nicht mehr als Handlungsanweisung verstanden, Gesetze werden nicht angewendet, Regeln werden ignoriert.

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Dieser Realitätsverlust lässt sich an zwei Beispielen deutlich machen. Da ist zum einen die Prognose, wie sich das Verhältnis der Schulden zum Bruttoinlandsprodukt in den USA bis 2048 entwickeln soll. Demnach wird bis 2030 – in Friedenszeiten – ein Verschuldungsgrad erreicht, der sonst nur aus Kriegszeiten bekannt ist. Dies liegt in erster Linie an den Plänen der USA, immer mehr Geld für Verteidigung, soziale Sicherheit und Medicare auszugeben, ohne den prozentualen Anteil der Steuern am BIP anzuheben. Und im Gegensatz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gibt es keinerlei realistischen Plan – und noch nicht einmal die Absicht – diesen Schuldenberg zu verkleinern. Erstmals in der Geschichte des industriellen Kapitalismus häuft eine große Volkswirtschaft in Friedenszeiten einen Schuldenberg an, für dessen Abbau es keine realistischen Möglichkeiten gibt.

Laut der Prognosen des US-Haushaltsbüros wird das BIP der USA in den nächsten dreißig Jahren von 20 auf 65 Billionen Dollar wachsen, während die Schulden von 16 auf 97 Billionen Dollar explodieren. Das Defizit würde dann bei acht Prozent jährlich liegen – was die Ökonomen des Mainstreams Sparmaßnahmen fordern lässt, die im heutigen Amerika nicht durchsetzbar sind. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die US-Bevölkerung einen Zusammenbruch ihres Lebensstandards akzeptieren, die Welt weiterhin US-Papiere kaufen oder der Staat neues Geld drucken wird, um einer Insolvenz zu entgehen.

Sind wir willens, den politischen Einfluss der konventionellen Energiewirtschaft und der steuervermeidenden Finanzindustrie zu zerstören?

Betrachten wir nun das zweite Beispiel. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) weist darauf hin, wie dramatisch wir in den nächsten 20 bis 35 Jahren die CO2-Emissionen reduzieren müssen, um Katastrophen und einen unkontrollierten Zusammenbruch zu verhindern. Um dies zu erreichen, schreibt der IPCC, brauchen wir „schnelle und weitreichende Veränderungen der Energieversorgung, der Landnutzung, der Infrastruktur (wie Transport- und Bauwesen) und der industriellen Systeme“ – und „eine erhebliche Zunahme der Investitionen in diesen Bereichen“.

Die Menschheit steht nun vor der großen strategischen Frage, ob die stark verschuldeten Industrieländer bereit sind, die für diesen Wandel nötigen Ressourcen bereitzustellen. Sind wir außerdem willens, zu diesem Zweck den politischen Einfluss der konventionellen Energiewirtschaft und der steuervermeidenden Finanzindustrie zu zerstören? Wenn wir diese Fragen nicht beantworten, schreiben wir die Kultur des Realitätsverlusts nur weiter fort.

In den USA ist zu diesem Thema eine neue, mächtige Bewegung entstanden. Der „Green New Deal“ (GND), der von der New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez als Gesetzesentwurf im Kongress eingereicht wurde, sieht Ausgabenverpflichtungen für zehn Jahre vor, die von Kritikern auf zusätzliche sechs Billionen Dollar jährlich eingeschätzt werden. Die Fürsprecher des GND scheuen vor dieser Zahl zurück. Sie bedienen sich der sogenannten modernen Geldtheorie um zu argumentieren, dass diese Summe durch die Aufnahme neuer Schulden und den Druck neuen Geldes auf jeden Fall aufgebracht werden könne. Die Zahl sei damit irrelevant.

Obwohl ich die Chuzpe dieser Leute bewundere, beruht diese Sichtweise auf ähnlichen Annahmen wie die Haushaltspolitik von Präsident Donald Trump – dass der Staat die traditionellen Schuldendynamiken durch neues Buchgeld für immer überwinden kann. Anders ausgedrückt, es wird angenommen, die internen Dynamiken eines kapitalistischen Marktsystems – in dem hohe Schulden irgendwann zu Instabilität und Währungsabwertungen führen und die staatlichen Kosten für die immer höhere Verschuldung außer Kontrolle geraten – könnten durch Buchgeld außer Kraft gesetzt werden.

Die Informationstechnologie lehnt sich gegen die sozialen und wirtschaftlichen Institutionen auf, von denen sie umgeben ist.

Es gibt nur einen Weg, diese Debatte realistischer zu führen. Wir müssen uns der Frage stellen, ob diese Lösungen mit dem Kapitalismus überhaupt vereinbar sind. Darüber aber sind weder die Mitglieder der Davoser Wirtschaftselite noch die progressiven Demokraten – und noch nicht einmal der größte Teil der Umweltbewegung – bereit nachzudenken.

In „Postcapitalism: A Guide to Our Future“ (2015) argumentiere ich, dass dies nicht der Fall ist. Das größte Problem für die Nachhaltigkeit der Verschuldung in den USA (oder Japan oder der Eurozone) ist nicht, ob das Finanzsystem durch Buchgeld am Leben erhalten werden kann. Es besteht vielmehr darin, dass sich die Informationstechnologie gegen die sozialen und wirtschaftlichen Institutionen auflehnt, von denen sie umgeben ist.

In einer kapitalistischen Informationswirtschaft werden zu wenig Werte geschaffen, um das Ausmaß des derzeitigen Schuldenbergs, die anhaltenden Defizite und die Haushaltsplanungen der großen Staaten rechtfertigen zu können. Durch die Informationstechnologien werden die Produktionskosten von Informationen, Informationsgütern sowie einigen physischen Waren und Dienstleistungen exponentiell gedrückt. Durch Netzwerkeffekte erzeugen diese Technologien enorme Mengen an kostenlosen Nutzwerten und lassen Innovationen demokratischer und billiger werden.

Sie unterdrücken den normalen Anpassungsmechanismus, der dafür sorgt, dass Innovationen zu neuen Waren mit höheren Einstandskosten führen und Arbeitsplätze mit höheren Löhnen ermöglichen. Zusätzlich dazu hat die Automatisierung das Potenzial, 47 Prozent der Arbeitsplätze und 45 Prozent der wirtschaftlichen Aktivitäten zu vernichten.

Die lang erwartete vierte industrielle Revolution kommt daher nicht von der Stelle. Innerhalb einer hoch verschuldeten und monopolisierten globalen Marktwirtschaft kann sie sich nicht entwickeln.

In den letzten fünfzehn Jahren haben wir ein hochgradig dysfunktionales System erschaffen, das laut allen traditionellen Kriterien nicht nachhaltig ist. Es ist ein System dauerhafter Einzelmonopole mit massivem Renditestreben und finanzieller Ausbeutung. Es erzeugt niedrig qualifizierte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze. Dieses System dient dazu, die Menschen im System der Kredite und des Datenmissbrauchs festzuhalten und es sorgt für massive Macht- und Informationsasymmetrien zwischen Konzernen und Konsumenten.

Die lang erwartete vierte industrielle Revolution kommt daher nicht von der Stelle. Auch wenn die schumpeterianischen Ökonomen – unter der Voraussetzung, dass die Staaten eine aktivere Rolle bei der industriellen Koordinierung spielen – ihre baldige Ankunft voraussagen: Innerhalb einer hoch verschuldeten und monopolisierten globalen Marktwirtschaft kann sie sich nicht entwickeln.

Also brauchen wir neben dem Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft auch eine schnelle Umgestaltung des Systems. Der Marktsektor muss im Verhältnis zum öffentlichen Sektor schrumpfen, es muss ein marktfreier, kollektiver Sektor entstehen, Geld muss seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel verlieren, und innerhalb des Lohnsystems muss sich die Anzahl der Arbeitsstunden erheblich verringern.

Betrachtet man lang genug die Schuldenprognose für die USA und sieht man, wie schnell die Menschheit die Welt ruiniert hat, indem sie sie als Müllhalde für kohlenstoffintensive Prozesse missbraucht hat, dann wird offensichtlich, dass wir einen toten Punkt erreicht haben. Wir sind zu verschuldet, um weiterzumachen wie bisher, und wir sind strukturell zu süchtig nach Kohlenstoff. Die Gläubiger und diejenigen, die das Recht zur Verbrennung des Kohlenstoffs haben, müssen pleitegehen. Andernfalls wird das Weltklima zusammenbrechen.

Der Übergang zum Postkapitalismus bedeutet nicht, die Marktkräfte über Nacht auszumerzen oder eine Plan- oder Kommandowirtschaft nach sowjetischem Vorbild zu akzeptieren.

Mittelfristig brauchen wir eine andere Form des Kapitalismus. Diese wird aber weder stabil noch von Dauer sein. Sogar diese Entwicklung muss durch etwas entstehen, das sich wie eine Revolution anfühlen wird. Wir müssen nicht nur die Anreize zur Verwendung von Kohlenstoff abschaffen. Wir müssen auch den Reichtum massiv umverteilen und dem globalen Süden eine weitere Entwicklung ermöglichen – und außerdem die massiven strukturellen Verzerrungen durch Technologiemonopolisten, Profitsucher, Finanzspekulanten sowie Daten hortende Staaten und Unternehmen überwinden.

Der Übergang zum Postkapitalismus bedeutet nicht, die Marktkräfte über Nacht auszumerzen oder eine Plan- oder Kommandowirtschaft nach sowjetischem Vorbild zu akzeptieren. Das Ziel muss sein, einen kontrollierten Übergang zu schaffen, der zur Folge hat, dass der Staat schrumpft, die Schuldenberge abgebaut werden, und die Marktkräfte ihre Rolle als primärer Verteiler von Waren und Dienstleistungen auf dem Planeten verlieren.

In großen Bereichen der Wirtschaft wird die Knappheit durch die Informationstechnologie überwunden werden. Der Klimawandel verlangt, dass wir bestimmte Formen der Verwendung von Kohlenstoff beenden. Die weltweite Schuldendynamik weist uns in Verbindung mit der Alterungsproblematik darauf hin, dass wir etwas Radikaleres und Nachhaltigeres brauchen als Buchgeld und einen Schuldenberg, der niemals zurückgezahlt werden kann.

Als ich in „Postcapitalism“ warnte, die Globalisierung werde zusammenbrechen, wenn wir den Neoliberalismus nicht abschaffen, nannte die Financial Times dies „unnötig schrill“. Es hat sich gezeigt, dass es noch nicht schrill genug war.

Der Staat, der von den Bewegungen für Umwelt und soziale Gerechtigkeit so lange vernachlässigt wurde, wird bei der Lösung unserer Probleme eine zentrale Rolle spielen. Während Trump die USA aus dem Pariser Klimaabkommen herauszieht, bereitet sich sein brasilianischer Kollege Jair Bolsonaro darauf vor, das Amazonasgebiet abzufackeln. Und während sich in Europa mächtige Bewegungen formieren, um den Lebensstil auf der Grundlage dieselbetriebener Autos zu schützen, kann nur eine neue, große, weltweite Idee die Lage ändern.

Für die neuen progressiven politischen Bündnisse, die sich bilden müssen, bedeutet das: Sie müssen den kommenden Kulturkrieg intelligent führen. Der Staat, der von den Bewegungen für Umwelt und soziale Gerechtigkeit so lange vernachlässigt wurde, wird bei der Lösung unserer Probleme eine zentrale Rolle spielen.

Ein erheblicher Teil der Politik ist durch und durch unwirklich geworden. Dies liegt an den beiden technokratischen Grundannahmen unserer Zeit – dass das momentane soziale System zu einer kohlenstofffreien Gesellschaft führen kann und steigende Schulden durch Buchgeld für immer ausgeglichen werden können. Wir müssen dieser Sache endlich auf den Grund gehen.

Folgt: Frühlingserwachen – Links regierte europäische Metropolen sind die Wiege eines postkapitalistischen Modells – solidarisch und sozial