„Die Strategie muss liefern!“

Nachhaltigkeitsrat empfiehlt Bundesregierung kreative Konsequenz Vorbemerkung 

Die Bundesregierung kündigt an, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterzuentwickeln. Der Arbeitsprozess soll im Herbst 2019 starten. Die Weiterentwicklung ist erforderlich. Es steht zu befürchten, dass wichtige Ziele nicht erreicht werden, wenn die Bundesregierung hier nicht konsequent nachsteuert. Auch neue Themen aus der Digitalisierung, der Wirtschaftsentwicklung und den Umweltschäden erfordern diese Weiterentwicklung. Neue Anforderungen stellen sich auch im europäischen und globalen Kontext. Es ist dringlich, die regionalen Akteure und Entscheidungsträger in das Handeln einzubeziehen. Hier gibt es neue, noch zu wenig genutzte Möglichkeiten für die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat diese neuen Möglichkeiten in Empfehlungen gegossen. Solarify dokumentiert sie.

Die internationale Prüfung durch eine Gruppe von hochrangigen Experten (Peer Review) unter Leitung von Helen Clark bescheinigt Deutschland einen fortgeschrittenen Aufbau von politischen Kapazitäten zur Nachhaltigkeitspolitik. Die Peers legen gleichwohl die Latte höher und weisen mit Dringlichkeit auf jene Ziele hin, die nicht erreicht werden (off track). In diesen Signalbereichen gibt es empfindliche Handlungslücken. Hier liegt eine große Aufgabe, die sowohl von der Bundesregierung, allen Institutionen mit Nachhaltigkeitsaufgaben, als auch von allen interessierten Kreisen angegangen werden muss. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie muss gewährleisten, dass Ziele auch erreicht werden. Darauf muss das politische Augenmerk gelegt werden. Das ist ein großes Paket und deshalb wendet sich der Nachhaltigkeitsrat frühzeitig an die Bundesregierung. Weil die Anforderungen enorm sind, müssen die Konsequenzen einschneidend sein. Nur geringfügige Modifikationen oder gar ein Weiter-so sind nicht vertretbar. Politik darf freiwilliges Handeln nicht länger auf das diametrale Gegenstück zu gesetzlicher Vorgabe reduzieren. Ein Entwederoder ist nicht die Lösung. Vielmehr ist an die innovativen Praxisbeispiele anzuknüpfen, mit denen Initiativen in der Gesellschaft und von Unternehmen das Leitbild der Nachhaltigkeit eigenverantwortlich umsetzen. Das ist eine Aufgabe der nächsten Stufe der Nachhaltigkeitsstrategie: Konsequent und kreativ zu organisieren ist das produktive Zusammenwirken dieses Potenzials mit solchen Rahmenbedingungen, die Zielkorridore verbindlich gestalten und staatlich verantworten. Substanzielle Ergebnisse und wirksamere Verfahren gehen vor; weitere Detailverbesserungen an der institutionellen „Architektur“ sind demgegenüber nachrangig. Die Bundesregierung sollte sich diesen Grundsatz zu eigen machen. Auf ihn sollte sie die Priorität ihrer Überarbeitung legen. Die Mitglieder des Nachhaltigkeitsrates sind sich darin einig, dass alle nachfolgenden Empfehlungen gleichermaßen relevant sind. Ihre Reihenfolge signalisiert keine Rangfolge.

Motto der 19. RNE-Jahreskonferenz – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

1. Empfehlung: Die Gesellschaft als Akteur – Commitments aus der gesamten Gesellschaft

Der Nachhaltigkeitsrat empfiehlt der Bundesregierung im Rahmen der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie, die Breite der Gesellschaft anzusprechen und einzubeziehen. Im Vergleich zu den Anfängen der Nachhaltigkeitsstrategie verzeichnen wir heute eine deutlich breiter verankerte Bereitschaft zum Engagement und zum Mittun. Unser Vorschlag knüpft an Erklärungen der Bundesregierung an. Zutreffender Weise betont sie wiederholt, dass die Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung ein gemeinsames Zusammenwirken, eine Art Zukunfts- oder Gesellschaftsvertrag oder ein Gemeinschaftswerk erfordere. Das gilt es nun tatsächlich auch ins Werk zu setzen. Der Rhetorik muss Realität folgen. Der Nachhaltigkeitsrat trägt im Rahmen seines Mandates dazu bei, Nachhaltigkeit zu einer gesellschaftlich wirksamen Norm zu machen. Insbesondere der Deutsche Nachhaltigkeitskodex, die Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien und die Deutschen Aktionstage, aber auch unsere kleineren Projekte, sind hierbei erfolgreich. Nötig ist jedoch eine breitere und umfassende, freiwillige Basis-Vereinbarung zur intergenerativen Gerechtigkeit, gegenseitigen Rücksichtnahme und Umweltverantwortung. Für ein solches Gemeinschafts- oder Zukunftswerk müssen neue Wege beschritten werden. Der Nachhaltigkeitsrat empfiehlt hierzu folgende erste Schritte im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2020 ff.: ·

  • Der Nachhaltigkeit Verfassungsrang geben

Gesellschaften billigen oder missbilligen Verhalten in der Regel durch rechtliche Ordnungsregeln. Dies erfordert klare rechtliche Bezugspunkte und einen Staat, der soziale Nachhaltigkeit und Rechte zur Erhaltung der Umwelt auch durchsetzen kann. Neben Regulierung und Rechtswirksamkeit muss er auch mit den Prinzipien der Freiwilligkeit und der Verantwortung für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele eintreten. Solange dieses nicht geschieht, kommt die Vorsorge systembedingt zu kurz. Wir sprechen uns grundsätzlich für die Verankerung des Nachhaltigkeitsprinzips im Grundgesetz aus. Es sollte dem Gesetzgeber sowohl einen Auftrag zur Gestaltung von Zukunftsfähigkeit als auch eine prozedurale Maßgabe zur Überprüfung und zum Monitoring geben¹.

  • Gesellschaftliche Dimension aufgreifen

Verwaltungen, Behörden, Verbänden, Sektorinitiativen, Fachgemeinschaften, Vereinen und Selbstverwaltungen (keine individuellen privaten „Absender“) sollte es ermöglicht werden, ihre Beiträge zu den Anliegen der Nachhaltigkeitsstrategie vorzustellen. Das muss in einem organisierten Rahmen geschehen. Erwartet werden Zielversprechen, Selbstverpflichtungen, Eigeninitiativen, Branchenvereinbarungen, Konsumenten-Informationen, Einkaufsgemeinschaften zur Beschaffung nachhaltiger Produkte – alles mit Blick auf die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie. Zentral ist die Frage, wovon wir leben. Sie ergänzt das Nachdenken darüber, wie wir gut leben und arbeiten können. Im Sinne des englischen Begriffes Commitment werden freiwillige Beiträge eingestellt und angefordert. Die Ausgestaltung des Ansatzes erfolgt unter Einbezug von Anregungen und Hinweisen von gesellschaftlichen Verbänden und von Wirtschaftsverbänden. Unbenommen davon bleibt der rechtsstaatliche Vollzug von verbindlichen Nachhaltigkeitspflichten.

  • Konsistenz erhöhen

Bund, Länder und Kommunen sollten wichtige systemische Ziele und Prinzipien der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie gemeinsam verfolgen. Das gilt insbesondere für jene Ziele, die sektorübergreifend sind und quer zu den administrativen Zuständigkeiten liegen: Reduzierung des Flächenverbrauches (das „Ziel 30ha“), Ökolandbau, Bildung für nachhaltige Entwicklung in allen Lebensphasen. Ergänzend sollte ein Ziel zur ökologisch und sozial verträglichen Schaffung von Wohnraum dazukommen. Die Haushalte von Bund und Ländern sollten Vergleichs- und Referenzwerte für Zukunftsinvestitionen enthalten (z.B. zur Flächen- und Klimaneutralität), die auch für den Kapitalmarkt Orientierung bieten. Strategische Bedeutung kommt der öffentlichen Beschaffung zu. Nachdem die Beschaffung mit Nachhaltigkeitskriterien rechtlich ermöglicht wurden, müssen die praktischen Kompetenzen und das Wissen um Alternativen mit Referenz-Fällen umfassend ausgebaut werden.

  • Gesellschaftliche Partizipation stärken

Die Beteiligung ist ein wichtiger Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung. Breite Bevölkerungsschichten und weite Kreise von Stakeholdern sind nur über einen regionalen und kommunalen Ansatz erreichbar. Wir empfehlen der Bundesregierung eine intensivere Beteiligung der Kommunen im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie sowie die regionale Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Akteuren konsequent voranzutreiben. Hierzu ist die Fortführung der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien auf Dauer sicherzustellen, um auch lokale Prozesse zur Agenda 2030 zu unterstützen.

2. Empfehlung: Den europäischen und globalen Kontext hervorheben

Nachdem die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie an die Maßstäbe der UN Agenda 2030 und deren Sustainable Development Goals angepasst ist und dies weltweit positive Resonanz eingebracht hat, empfehlen wir nunmehr nächste Schritte im europäischen und im globalen Kontext. Wir empfehlen der Bundesregierung, in ihrem entschiedenen Einsatz für eine Strategie der EU zur Umsetzung der Sustainable Development Goals in Europa² nicht nachzulassen und diesen mit ihrem ganzen politischen Gewicht zu verstärken. Eine wirksame europäische Umsetzungsstrategie zur nachhaltigen Entwicklung muss sich inhaltlich durch entschiedene Nachhaltigkeitsansätze dort auszeichnen, wo die Europäische Kommission weitgehende Zuständigkeiten hat, insbesondere in Förderinstrumenten zur Landwirtschaft, zum Verkehr und der regionalen Entwicklung sowie der Handelspolitik und in der Gestaltung des wirtschaftlichen Binnenmarktes. Wir empfehlen der Bundesregierung, zusammen mit europäischen Partnern auf eine Neupositionierung der Gemeinschaftspolitik im Sinne der Nachhaltigkeitsziele zu setzen. Wir empfehlen verstärkte Initiativen in Richtung auf die Kommission und das Europäische Parlament, um die Arbeiten an einer EU-Umsetzungsstrategie im Rahmen der EU-Präsidentschaft Deutschlands 2020 abzuschließen. Als wesentliche Inhalte empfehlen wir,

  • in Europa dafür zu sorgen, dass sich alle Mitgliedsstaaten Nachhaltigkeitsstrategien zur Umsetzung der Agenda 2030 geben, dass sie gegenseitig verknüpft und verifiziert werden. Peer Reviews (nach dem Vorbild des deutschen Peer Review unter Beteiligung von Experten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft) sollen organisiert werden, in die auch außereuropäische Experten und Länder einbezogen werden. Europa braucht ein Pendant zum UN High Level Political Forum;
  • die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union einschließlich Kriterien und Zeitplänen zu verankern;
  • einen Europäischen Nachhaltigkeitskodex einzubringen, der die Berichterstattung von Unternehmen über Nachhaltigkeit, Menschenrechte und Lieferketten verbessert, vereinheitlicht und gesellschaftlich nutzbar macht;
  • zwischenstaatliche „Early-Achievers“-Vereinbarungen zu schaffen, die auf das vorzeitige Erreichen bestimmter SDGs setzen;
  • das Instrument des Peer Review in den UN-Kontext einzubringen und freiwillige Anwendungen und Initiativen durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen;
  • darzulegen, wie Deutschland als Mitglied und Anteilseigner der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und in der Welthandelsorganisation die Nachhaltigkeitsziele dort umsetzen will; und wie mit Investitionen aus Deutschland zur afrikanischen Binnenmarktentwicklung beigetragen wird / werden soll;
  • im europäischen Kontext darauf zu drängen, die Praxis der öffentlichen Beschaffung an den Nachhaltigkeitszielen auszurichten;
  • das mit Frankreich vereinbarte Zukunftswerk Nachhaltigkeit für die gesamteuropäische Kompetenzentwicklung der verantwortlichen Administrationen aufzubauen und einzusetzen;
  • im internationalen Kontext die Beispiele zur Nachhaltigkeit „in, mit“, aber vor allem „durch“ Deutschland zu fördern und stärker zu kommunizieren.

Wir unterstützen das Konzept der SDG-Diplomatie Deutschlands, das auch in den UN-Sicherheitsrat eingebracht werden sollte. Vordringlich ist hierbei die Erfassung und Bewertung der zwischenstaatlichen Risiken, die mit der Erderwärmung und problematischen Lieferketten verbunden sind. Der UN-Sicherheitsrat sollte seine Resolution 1325 vom Oktober 2000 bekräftigen und die Geschlechtergerechtigkeit als SDG 5 einfordern. Ferner sollte sich Deutschland weiter entschieden für eine solche UN-Reform einsetzen, die der nachhaltigen Entwicklung hilft und sie in allen Ländern vorantreibt.

3. Empfehlung: Aktionshebel Haushalte und öffentliche Investitionen nutzen

Wir empfehlen der Bundesregierung, die Nachhaltigkeitsstrategie zu einer relevanten Referenzgröße für den Haushalt zu machen.³ Ziel muss ein nachhaltiger Staatshaushalt sein. Er ist im Interesse der Generationengerechtigkeit, eines stabilen Rechtsstaates und der Demokratie im Sinne von SDG 16 unerlässlich. Wir empfehlen, die Nachhaltigkeitsstrategie mit einem Haushaltstitel zu unterlegen. Er soll die Ziele der Nachhaltigkeit proaktiv zum wichtigen Referenzpunkt von öffentlichen und auch privatwirtschaftlichen Investitionen machen. Dies ist auch europapolitisch mit Blick auf die jüngst vereinbarten europäischen Referenzwerte für CO2-arme Investitionen wichtig. Deutschland sollte sich stark machen für eine Agenda für nachhaltige Finanzierung und den Aufbau einer „Sustainable Finance“-Union4. Die Strategie sollte hohe Offenlegungs- und Berichtsstandards wie den Nachhaltigkeitskodex sowie die verbindliche Sicherung der Menschenrechte und des Umweltschutzes in Lieferbeziehungen (Lieferketten) anstreben. Deren Einfluss auf Investitionsflüsse ist um ein Vielfaches wirkungsvoller als konventionelle Maßnahmen. Dies gilt für alle Aspekte der Nachhaltigkeit, einschließlich und insbesondere der Finanzpolitik.5 Die mittelfristige Finanzplanung des Bundeshaushaltes könnte flankierend wirken, indem sie die öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur kennzeichnet, soweit diese zum Erreichen der SDGs maßgeblich beitragen (SDG Earmarking). Auch hier muss das Potenzial der öffentlichen Beschaffung besser genutzt werden. Die Beschaffung hat, und zwar gerade weil sie dezentral ist und vieltausendfach durch viele Menschen ausgeübt wird, eine potenziell unvergleichbar hohe Nachfragemacht. In unübersichtlichen und ungewohnten Phasen der Transformationen, wie wir sie vor allem in Verkehr, Landwirtschaft und Konsum sehen, muss ihr eine orientierende und marktöffnende Rolle gegeben werden.

4. Empfehlung: Lücken in Signalbereichen schließen

Die erneuerte Nachhaltigkeitsstrategie soll ein Dokument der Hoffnung werden. Es soll den Menschen, egal ob in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, versichern, dass und wie sich ihr Einsatz für die Nachhaltigkeitsziele lohnt und wie er zu steigern ist. Dazu empfehlen wir der Bundesregierung die strategische Lückenschließung zwischen Rhetorik (Ziel) und Realität (Stand der Indikatoren). Wir raten dazu, die nächste Nachhaltigkeitsstrategie mit Haushaltsmitteln für den Lückenschluss auszustatten, ggfs. auch im Wege der Kennzeichnung (Earmarking) bestehender Haushaltstitel. Alle Ziele und Indikatoren der Nachhaltigkeit sind wichtig, aber nicht alle sind gleich im Defizit (off track). Die in der Öffentlichkeit vorrangig öffentlich wahrgenommenen Ziele bezeichnen wir als Signalbereiche (faktische Leitgrößen). Sie vereinen jeweils ökonomische, soziale und ökologische Aspekte:

  • Sozialer Wohnraumbedarf in Verbindung mit dem Schutz der Flächenressourcen,
  • Bekämpfung der Ungleichheit (SDG 10),
  • Artenschutz,
  • Klimaschutz,
  • Nachhaltiger Konsum.

Der Lückenschluss zwischen Ziel und Realität ist hier vordringlich; die längerfristigen Maßnahmen zur Erreichung des Zieles bleiben unberührt. Der Lückenschluss ist jeweils spezifisch und soll kurzfristig wirken, damit die Nachhaltigkeitsstrategie besser und stärker wahrgenommen wird. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:

  • Die Klimalücke

Der Erfolg der Kohlekommission sollte 1:1 gesichert und noch im Laufe von 2019 in Gesetze und Vorgaben umgesetzt werden. Das Klima-Bundeskabinett muss zu wirksamen Lösungen für die wesentlichen Mengen an klimarelevanten Emissionen kommen, die noch nicht dem Europäischen Emissionshandel unterliegen (Verkehr, Landwirtschaft, Bauen, Konsum).

Deutschland schiebt Jahr um Jahr einen empfindlichen Rückstand im Hinblick auf vereinbarte und beschlossene Klimaziele vor sich her. Wir nennen dies eine jährliche Klimalücke. Wir schlagen vor, die Jahreslücke kontinuierlich zu schließen; dabei gehen Minderungsmaßnahmen vor dem Zukauf entsprechender Mengen an Zertifikaten. Aufgekaufte Zertifikate müssen stillgelegt werden. Wir regen an, dass die finanzielle Belastung des Bundeshaushaltes der Verantwortung der Ressorts anteilig für das Nichterreichen „ihrer“ Klimaziele zugeordnet wird.

Das uns zeitlich am nächsten liegende Ziel, die Emission von Klimagasen bis 2020 um 40% (gegenüber dem Stand von 1990) zu senken, verfehlen wir derzeit um mehr als 100 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Die Zeit zum Lückenschluss ist knapp, zumal die Vereinbarung zum Kohleausstieg vorsieht, dass schon bis 2022 kurzfristig weitere Maßnahmen ergriffen werden sollen.

Der gemeinsame Fahrplan zum Ausstieg aus der Kohleverfeuerung und zum Ausgleich möglicher Nachteile für die betroffenen Regionen sieht auch die Stilllegung von Emissionsrechten vor, die mit dem schrittweisen Ausstieg nicht mehr genutzt werden. Dies ist zu begrüßen, ebenso wie die Betonung der europäischen Dimension der deutschen Energiepolitik.

Wir wissen um die enorm anspruchsvolle Aufgabe für die Bundesregierung, die Kohle- Empfehlungen finanziell im Rahmen eines nachhaltigen Haushaltes umzusetzen. Wir empfehlen ein durchgehendes, wirkungsvolles Preisschild für CO2 und Klimagase. Das Preisschild sollte möglichst umgehend realisiert werden; zu prüfen sind sowohl eine Ausweitung des Emissionshandels als auch ein Basispreis durch eine Steuer oder Abgabe. Die Lösung sollte der globalen Volatilität des Ölpreises Rechnung tragen. Soziale Härten sind durch Pro-Kopf-Rückerstattung auszugleichen. Wir regen an, die Rückzahlung schon am Beginn des Jahres vorzunehmen, also zeitlich vor dem Fälligwerden der Steuer. Auch mit einer solchen CO2- Steuer muss es massive staatliche Investitionen in die Wohnungserneuerung und energetische Gebäudesanierung geben, wie auch Prämien für den schnelleren Umstieg auf nachhaltige Mobilität.

  • Nachhaltiger Konsum6

Ein privater Konsum, der nachhaltig und ressourcenbewusst ist, steht in weiter Ferne. Aber trotzdem liegen bewusste Kaufentscheidungen in einem starken Trend (bio, regional, faire Lohn- und Arbeitsbedingungen, CO2-arm, plastik-arm, ressourcen-sparend, weniger Verpackung, ohne Wegwerfen, Tierwohl). Die Anzahl der Kennzeichen und Siegel, die Produkte als nachhaltig ausweisen wollen, ist unübersichtlich. Ihre Qualität ist nicht durchgehend gesichert. Die Gefahr von Greenwashing nimmt zu. Um den positiven Trend im privaten Konsum auszuweiten, muss der Staat mehr Klarheit und Qualität der Produktkennzeichnungen durchsetzen. Diese Aufgabe ist dringlich, weil Deutschland als Wohlfahrtsland im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung (SDG 8), nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster (SDG12) und die Klimapolitik (SDG 13) sehr deutlich im Obligo steht.

Wir empfehlen der Bundesregierung, im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie ihre Bemühung um Glaubwürdigkeit und Reichweite der Kennzeichen und Siegel von Produkten zu vergrößern. Wir empfehlen ein Dachsiegel „nachhaltig“ einzurichten, auf dessen Nutzung sich öffentlichrechtliche Siegel ebenso wie Unternehmen mit ihren spezifischen Siegeln und Eigenmarken bewerben können. Wir empfehlen, hierfür eine unabhängige Stelle mit dem Mandat zu beleihen, das Dachsiegel auf Anfrage und im Wettbewerb zu erteilen. Sie genehmigt die Nutzung des Dachsiegels auf der Basis verifizierbarer Angaben zur Nachhaltigkeit einschließlich der Herkünfte und Lieferantenbeziehungen und kann die Nutzung zeitlich begrenzen.

Wir drängen darauf, dass das Nachhaltigkeits-Siegel die Vielzahl von bestehenden Kennzeichnungen reduziert, den „Siegel-Markt“ transparenter macht und damit die Produktion und den Absatz nachhaltiger Erzeugnisse drastisch ausweitet. Diese Ausweitung ist dringend notwendig. Die Bundesregierung sollte das Dachsiegel für strategische Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie, etwa im Rahmen der Beschaffung, nutzen. Das Vergabeverfahren vermeidet zusätzliche Bürokratie, zumal der Kompass Nachhaltigkeit (BMZ) die notwendigen Daten für einige öffentlich-rechtliche Siegel bereits vorliegen hat.

Generell gilt, dass die Nachhaltigkeitsstrategie direkter als bisher an der Lebenswirklichkeit der Menschen und der Realität von Wirtschaftsbeziehungen anknüpfen muss, um die Wirksamkeitsschwelle zu überspringen. In der Gesellschaft hat sich das Engagement zur nachhaltigen Entwicklung vergrößert. Wir beobachten das im privaten Konsum und bei allgemeinen Werthaltungen. Es spiegelt sich in den Regionalen Netzwerken Nachhaltigkeitsstrategien und bei dem, was der Deutsche Nachhaltigkeitspreis an Engagement und Umbau der Wirtschaft ausdrückt.

5. Empfehlung: Interne Arbeitsprozesse zur Nachhaltigkeitsstrategie verbessern

Die Einrichtung von Ressortbeauftragten zur nachhaltigen Entwicklung wird nachdrücklich begrüßt. Ihre Arbeit verbessert die Querinformation und fördert die gegenseitige Unterstützung. Ebenfalls begrüßt der Nachhaltigkeitsrat, wie schon mehrfach ausgeführt, die neuen Managementregeln (jetzt: Prinzipien). Wir schlagen vor, die Anwendung dieser Prinzipien der Nachhaltigkeit von externen Evaluatoren überprüfen zu lassen. Die Evaluation soll veröffentlicht werden. Wir regen an, dass die Bundesregierung ihre Aktionspläne für nicht zielgerechte („off track“) Ziele baldmöglichst vorlegt und mit der Anwendung der „Prinzipien“ verbindet. Weiterführend ist der Ansatz, bei der weiteren Gestaltung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie die europäische Nachhaltigkeitsordnung (im Entstehen) „mitzudenken“. Die deutsche EURatspräsidentschaft 2020 und ihre Vorbereitung bieten hierzu hervorragende Möglichkeiten für deutsche Europa-Initiativen im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie. Sowohl machbar als dringend erforderlich sind Initiativen zur Europäisierung des Nachhaltigkeitskodex für Unternehmen und zur europäischen Aufstellung des deutsch-französischen Zukunftswerkes Nachhaltigkeit-Transformationen (vgl. Aachener Vertrag). Hierzu bieten wir weitere Konkretisierungen an.

6. Empfehlung: Durch die Auswahl von Indikatoren Diskurskompetenz erhöhen

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie braucht mehr Handlungsstärke und Durchgriffstiefe. Die Themen mit internationaler Bedeutung, die der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung 2018 und im laufenden Jahr bearbeitet hat, bieten hierzu beste Gelegenheit. Die Strategie ist auf nationaler Ebene dort am wirkungsvollsten, wo über sie geredet und auch gestritten wird. Seit 2002 geht die meiste Wirkung von dem Ziel 30 Hektar aus, mit dem sich die Bundesregierung die Verringerung der Inanspruchnahme von (meist agrarisch genutzter) Fläche für Siedlung und Verkehr vorgenommen hat. Das Ziel hat in den Städten und Gemeinden, in Planungsämtern, bei Investoren und Architekten zum dezentralen Aufbau von Kompetenzen und zum Umdenken geführt, auch unterstützt durch planungsrechtliche Folgeregelungen. Es steht stellvertretend für die gesamte Nachhaltigkeitskonzeption: Es führt komplexe ökonomische, soziale und ökologische Begründungen zusammen; und es fördert die Kompetenzen zum Vorausdenken und zum Umgang mit der bestehenden, nicht-nachhaltigen Situation, weil es weder illusorisch ist, noch sich nur an der Realität ausrichtet. Auf ähnliche Weise muss auch in anderen Themenbereichen die Diskurskompetenz ausgebaut werden. Zu empfehlen ist dies in folgenden Bereichen:

  • Wohlstand und „Sustainable Finance“:

Nachhaltigkeit, Daseinsvorsorge und Wohlstand hängen eng miteinander zusammen. Die Nachhaltigkeitsstrategie bildet sie aber bisher nicht entsprechend ab. Die Bundesregierung sollte dem Bruttosozialprodukt eine Information zur Wohlstandsentwicklung beigeben.

Vorschläge für einen Nationalen Wohlstands-Index liegen vor und werden seit Jahren testweise verwendet.

Der bestehende Indikator zum Verhältnis von Bruttoanlageinvestitionen zum BIP (Indikator 8.3) sollte dagegen entfallen und durch einen Indikator zum Verhältnis von Wohlstand und Infrastruktur-Investitionen ersetzt werden.

Der Nachhaltigkeitsstrategie wird empfohlen, einen ergänzenden Indikator „sustainable finance“ aufzunehmen. Dieser sollte die Dimension „in, mit und durch Deutschland“ aufgreifen.

Schließlich sollte auch ein Indikator zu den deutschen Aufwendungen für die ganzheitliche und globale Verbesserung der Gesundheitsversorgung aufgenommen werden (Indikatoren für Global Health).

  • Bildung für nachhaltige Entwicklung:

Leave no one behind – in kaum einem anderen Bereich ist die Lücke zwischen Rhetorik und Realität so groß wie im Bildungssystem. Der Zugang zur Bildung und die Aufstiegschancen durch Bildung sind Ziel der Agenda 2030. Aber immer mehr wird Bildungserfolg durch Herkunft und soziales Umfeld entschieden. Die PISA PLUS Studie 2017 hat den fehlenden Lernzuwachs für Deutschlands 16-Jährige vor dem Sprung in die Berufsausbildung oder an die weiterführende Schule sichtbar gemacht. Dass Bildungschancen nach wie vor von der Herkunft abhängen, ist nicht hinzunehmen. Dies unterstreicht auch der Nationale Bildungsbericht.

Die gemeinschaftliche Verantwortung von Bund und Ländern (siehe oben „Konsistenz erhöhen“) ist hier zu unterstreichen. Ein nächster Schritt ist in diesem Sinn insbesondere in der Bildungspolitik nötig. Analog zum Digitalpakt für Deutschlands Schulen ist ein Nachhaltigkeits-Pakt der Bildungsverantwortlichen nötig und wird hier empfohlen. SDG 4 macht den Handlungsauftrag deutlich.

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt ihn mit einer Reihe von generellen Indikatoren zur Bildung, aber noch nicht mit einem Indikator zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE).

Die Bundesregierung kündigt einen weiteren Bildungsindikator an, der speziell die Bildung für nachhaltige Entwicklung (SDG 4.7) indizieren soll. Hier steckt die Diskussion fest. Vieles erscheint verzettelt und ohne Wagemut. Die deutsche Umsetzung des 2030 UNESCO Weltaktionsprogramms BNE muss effizienter werden. Das BNE-Motto „vom Projekt zur Struktur“ war lange Zeit richtig. Jetzt muss es in den schulischen Strukturen darum gehen, die Jugendlichen Bildung erleben zu lassen. An praktischen Nachhaltigkeitsaufgaben lassen sich am besten nützliche Fähigkeiten und Kompetenzen erwerben. Dies gilt insbesondere auch für Berufsschulen und -kollegs.

Ein angemessener BNE-Indikator muss verständlich und leicht zu kommunizieren sein. Er muss im ersten Schritt nicht notwendigerweise das gesamte Bildungssystem systematisch abbilden.

Vielmehr soll er zeigen, dass und wie Nachhaltigkeit in der Schule und ihrem Umfeld Debatten und Aktivitäten im Unterricht erzeugt. Insofern sind geeignete BNE-Indikatoren zum Beispiel a) die Anzahl von Schulen mit plastikfreier Schulverpflegung und b) der Anteil von fair gehandelten Bioprodukten in der Region. Mittelfristig müsste eine Strategie für lebenslanges Lernen erarbeitet werden, da Nachhaltigkeitstransformationen bisher Erlerntes und erworbene Routinen verändern werden.

  • Integrierter Bodenschutz:

Die Bunderegierung kündigt einen Bodenschutzindikator für die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie 2020 an. Die Notwendigkeit zum Schutz der Böden macht ihn immer dringlicher. Die Sommer- Trockenheit der letzten Jahre weist auf die Bedeutung der Bodenfeuchte als Parameter für die Klimaanpassung hin. Der Massenschwund von Insekten ist auch durch fehlerhafte, weil einseitige und monotone Bodennutzungen zu erklären. Nach wie vor verliert Deutschland zu viel Ackerboden. Weltweit entziehen die Urbanisierungstrends wertvolle Böden den natürlichen Lebensgrundlagen. Zugleich drohen monetäre Anlagestrategien der nachhaltigen Bodennutzung entgegenzuwirken. SDG 15.3 (land degradation-neutrality) findet bisher in Deutschland eine zu geringe Beachtung. Das gilt weltweit. Ein deutscher Impuls würde international hohe Beachtung finden. Eine verlust-neutrale Landnutzung ist der Dreh- und Angelpunkt moderner Landwirtschaft. Sie ist eine der wesentlichen Vorausaussetzungen für eine nachhaltige Agrarwirtschaft.

Fazit

Ohne Zweifel sind unsere Empfehlungen weitreichend. Wir anerkennen alle bisherigen Anstrengungen, die seit den 1990er Jahren zu konkreten Maßnahmen, Engagement, neuem Wissen und Einsichten geführt haben: in der Politik, bei Institutionen und Verbänden, in Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Wir stehen nicht bei null. Es gibt Erfolge auf kommunaler Ebene, in den Ländern und beim Bund. Aber gerade um das Erreichte zu sichern und auszubauen, müssen wir jetzt vorangehen und mehr tun als je zuvor. Hierzu möchten wir alle Verantwortlichen ermutigen. Nachhaltige Entwicklung ist ein Anliegen, dessen objektive Dringlichkeit fortwährend zunimmt. Immer mehr Menschen erkennen das. Eine vorausschauende, wirkungsvolle und gut begründete Nachhaltigkeitspolitik ist ein Gebot der Demokratie.


¹ Eine geeignete Grundlage sind die jüngsten Vorschläge vom Präsidenten a.D. des Bundesverfassungsgerichtes, Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, sowie jene, die zuvor vom ehemaligen Vorsitzenden der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer e.V. und Rektor der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Prof. Dr. Joachim Wieland, vorgelegt worden sind. Vgl Prof. Dr. Papier https://www.cducsu.de/themen/wirtschaft-und-energie-haushaltund-finanzen/nachhaltigkeit-ins-grundgesetz sowie prof. Dr. Wieland https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wpcontent/uploads/migration/documents/20160603_Rechtsgutachten_Verfassungsrang_fuer_Nachhaltigkeit.pdf . ² Beschluss des Europäischen Rates vom 9.4.2019 “Towards an ever more sustainable Union by 2030” Council conclusions (8071/19). ³ Wir verweisen hier auch auf unseren Input zur Sitzung des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung, die sich am 25.2.2019 mit dem Thema Sustainable Finance befasst hat. 4 Europäische Kommission – Pressemitteilung „Nachhaltiges Finanzwesen: Kommission begrüßt Einigung über neue Generation von Referenzwerten für CO2-arme Investitionen“, Brüssel, 25. Februar 2019; http://europa.eu/rapid/pressrelease_ IP-19-1418_de.htm . 5 Das Bundesfinanzministerium hat sich dankenswerterweise den Klimaschutz-Kriterien für die Haushaltsaufstellung angeschlossen, die als so genannte Helsinki-Prinzipien Gegenstand internationaler Vereinbarungen sind. Vgl.

http://pubdocs.worldbank.org/en/646831555088732759/FM-Coalition-Brochure-final-v3.pdf . 6 Votum von Prof. Dr. Ulrich Schraml zur Empfehlung eines „Dachsiegels“: Das Anliegen, nachhaltigen Konsum über Zertifikate zu fördern und hier mehr Transparenz zu schaffen, trägt Prof. Dr. Schraml ausdrücklich mit. In einem Dachsiegel sieht er jedoch keinen Beitrag zur Förderung des nachhaltigen Konsums und erwartet im Gegenteil, dass bestehende, etablierte und wirksame Systeme abgewertet und Konsumenten irritiert werden.

->Quelle: nachhaltigkeitsrat.de/RNE-Position.pdf