Künstliche Gletscher züchten

Verlangsamung des Abschmelzens

Zu den weltweiten Folgen des Klimawandels, die bereits aktiv ablaufen und bedrohliche Ausmaße annehmen, gehört das Abschmelzen der Gletscher – einer der irreversiblen Kipppunkte. Die Folgen: Das einst festgefrorene Gestein lockert sich, Murenabgänge oder Bergstürze drohen. Auf mittlere Sicht ist die Wasserversorgung von Millionen Menschen gefährdet. In den Schweizer Alpen wurde eben eine Technik entwickelt, das die Lebensdauer von Gletschern verlängern soll: Ein spezielles Sprühsystem überzieht Gletscher im Frühjahr mit einer Eisschicht, die diesen vor der Sonne schützt. Der Glaziologe Felix Keller von der Höheren Fachschule für Tourismus (HFT) Graubünden hofft, so im Engadin künstliche Gletscher „züchten“ zu können und damit Gletscherrettungen möglich sind – so mehrere Medienveröffentlichungen, wie etwa das ZDF und Deutschlandfunk Kultur.

Tauender Permafrost und bröckelnde Felsen machen dem Matterhorn zu schaffen – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Klimawandel: Permafrost taut in immer höheren Lagen

Tauender Permafrost und bröckelnde Felsen machen vor allem der bekanntesten alpenländischen Touristenattraktion, dem Matterhorn, zu schaffen: Jahr um Jahr steigt die Zahl der Absturzopfer rasant. Der Geologe und Experte für Naturgefahren vom Schweizer Alpen-Club (SAC) Hans-Rudolf Keusen sagte der SonntagsZeitung: “In immer höheren Lagen taut der Permafrost”. Dementsprechend verlangten ungenannte Bergführer: “Der Berg ist inzwischen zu instabil und deshalb zu gefährlich, um als Touristenattraktion herzuhalten, an der täglich zig Menschen hochsteigen.” Im Sommer 2003 war der Aufstieg auf das Matterhorn nach einem mächtigen Felssturz aus Sicherheitsgründen bereits einmal verboten worden. Jüngsten Messungen von Wissenschaftlern der ETH Zürich zufolge tauen Gesteinsschichten auf, die einst ständig vereist waren. Tatsächlich war diese sogenannte Auftauschicht noch nie so dick wie 2018. “Deshalb kommt es über 2.500 Metern Höhe und vor allem in nördlich exponierten Felswänden immer häufiger zu Steinschlag und Felsstürzen”, sagt SAC-Experte Keusen (siehe solarify.eu/matterhorn-fuer-bergsteiger-immer-gefaehrlicher).

Seit 1850, den ersten Messungen, ist die Temperatur in den Alpen um 1,8 Grad gestiegen. In der Folge verlieren die Alpengletscher jährlich zwei bis drei Prozent ihres Volumens. 2050 werden nach Expertenschätzungen nur noch die Hälfte der Gletscherflächen von 2000 vorhanden sein. „Zu retten sind die Gletscher vermutlich nicht mehr“, stellt heute.de auf youtube fest. Also seien kreative Lösungen gefragt, um das Schmelzen zumindest zu verlangsamen. An der Zugspitze, Deutschlands höchstem Berg, wurden beispielsweise Plastikplanen über die Gletscher gezogen, damit der Schnee, der die Gletscher schützt nicht schmilzt.

Gletscherforscher Keller hat zusammen mit Roger Waser von der Hochschule Luzern ein bereits patentiertes Beschneiungssystem weiter entwickelt. Damit wollen die Forscher die Gletscher sogar wieder wachsen lassen. Ob das funktionieren kann, wird aktuell am Schweizer Morteratschgletscher im Oberengadin getestet. Der verliert an Sommertagen eine Million Tonnen Eis und hat sich zwischen 1900 und 2017 um etwa 2.500 Meter zurückgebildet. Durch eine Art Schmelzwasser-Recycling soll neuer Schnee auf den Gletscher fallen und das Abschmelzen abbremsen.

Felix Keller in DLF Kultur: „Das Prinzip, an dem wir im Moment arbeiten, ist relativ simpel. Es geht darum, das Schmelzwasser, das im Sommer leider zurzeit reichlich anfällt, oben zu behalten. Wir werden nichts hinauf pumpen und dann in den kalten Wintermonaten wieder gefrieren lassen. Daher nutzen wir nun den Prozess des Schmelzwasser-Recyclings. Darin sehen wir die Möglichkeit, aus diesem Schmelzwasser ohne den Einsatz von elektrischer Energie Schnee herstellen und den Gletscher so zu 100 Prozent gegen die Schmelze zu schützen.“ Kellers Prinzip ist bereits unter dem Namen Nessy Zero E patentiert, die Abkürzung für neues, energieeffizientes Schneisystem, Zero E bedeutet ohne elektrische Energie – es funktioniert ausschließlich mit Wasserdruck.

Die sogenannte glaziale Tiefenerosion schaffe Schmelzwasserseen, die nutzen Keller und Waser. Der Morteratschgletscher hat eine Höhendifferenz von 1.900 Meter. Auf 2.700 Meter Höhe wird das Wasser gesammelt und in Form künstlichen Schnees auf etwa 2.450 Meter auf den Gletscher aufgebracht.

Eines der möglichen Probleme sieht Keller darin, dass riesige Mengen an Schnee benötigt werden: „Rund 30.000 Tonnen Schnee pro Tag, und dazu benötigen wir eine neue Technologie, die das ohne den Einsatz von elektrischer Energie bewältigen kann.“ Dabei ist Keller sich im Klaren darüber, dass, selbst wenn das Pilotprojekt funktioniert, die Gletscher nicht wieder in den gleichen Zustand wie vor fünfzig oder sechzig Jahren zurückversetzt werden können. Der Schmelzprozess könne lediglich abgebremst werden – Keller spricht von einer „etwa rund fünfzig Jahre lange Verschnaufpause für die betroffenen Menschen“. Es gehe um die Existenz von 200 Millionen Menschen. Nachdem das Beschneiungssystem sehr teuer ist, räumt Keller ein, „dass es sich eigentlich mehr lohnen würde, in die Ursachen des Klimawandels zu investieren“.

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