Keine sozial-ökologische Wende in Sicht?

scilog: Paradoxon zwischen Ausnahmezustand, Erkenntnis und Handeln

Schon lange vor der Corona-Krise befand sich die Welt im Ausnahmezustand: Brennende Wälder, schmelzende Gletscher, rasanter Artenschwund und Bürgerkriege mit Hunderttausenden Flüchtlingen stellen die Menschen vor unabsehbare Folgen. Dennoch steigt der globale Verbrauch natürlicher Ressourcen ebenso weiter an wie die CO2-Emissionen, die Biodiversität nimmt ab, die sozialen Ungleichheiten nehmen zu, Kämpfe um verbleibende Ressourcen verschärfen sich. Diesem Paradoxon und Dilemma geht Ingolfur Blühdorn auf sozialwissenschaftlicher Ebene nach – so das Wissenschaftsportal scilog am 20.04.2020.

Anti-Atom-Endlager-Berichts-Demo vor BMBF – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

An der Wirtschaftsuniversität Wien sucht Blühdorn, Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Universität Wien, die Antwort auf die Frage, warum die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft bis heute nicht stattgefunden hat. Über diese nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit, wie Blühdorn es nennt, ist soeben ein Buch erschienen, das eine Gegenwartsdiagnose aus umweltsoziologischer Perspektive liefert. Die Erkenntnisse daraus basieren auf jahrelangen Untersuchungen, wie sie derzeit in einem Forschungsprojekt mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF gemacht werden.

Blühdorn und sein Team legen aktuell den Fokus auf das Potenzial von urbanen Experimenten. „Wir beobachten, dass umweltpolitische Interventionen zusehends lokaler und experimenteller geworden sind“, berichtet Projektmitarbeiterin Margaret Haderer. Die Forschergruppe interessiert, wie sich dieser Trend erklären lässt und schaut sich dabei zwei verschiedene Zugänge an: solche, die von technologischer Innovation und Wachstum getragen sind – etwa Smart-City-Konzepte – und jene wachsenden Initiativen, die „von unten“ aus der Zivilgesellschaft kommen, wie zum Beispiel ökologische Wohnprojekte, Reparatur-Cafés oder FoodCoops (Einkaufsgemeinschaften).

Gesellschaftspolitischer Wille fehlt

Ob die Transformation im Kleinen zur Wende im Großen führen könnte? Das sehen die Forschenden an der Wirtschaftsuniversität skeptisch, wenngleich sie einräumen, dass Veränderungen im kleinen Maßstab zumindest das Potenzial haben, auch größere Transformationen anzustoßen. Dass eine klimapolitische Wende durch grünes Wachstum mittels Technologie vollzogen werden kann, wird von der Wissenschaft allerdings immer mehr bezweifelt. Post-Wachstumsdiskurse wiederum, also kritisches Hinterfragen der kapitalistischen Marktlogik, gab es schon in den 1970er- und 80er-Jahren. Zudem gibt es einen dritten Faktor, der schwer wiegt: „Es gibt in entscheidenden Hinsichten nach wie vor ein gesellschaftspolitisches Beharren auf ein ‚Weiter-so-wie-bisher‘, das vermutlich auch nach der Corona-Krise die zentrale Politik sein wird“, betont Politikwissenschaftlerin Haderer. Dass Staaten aber durchaus in der Lage sind, Maßnahmen im Namen eines gemeinsamen Gutes zu setzen, das derzeit die Gesundheit ist, zeigt sich jetzt in der Krise ebenso.

„Die Coronavirus-Krise ruft in Erinnerung, welchen Preis moderne Gesellschaften insbesondere seit Mitte der 1990er-Jahre bezahlt haben, um das Wachstum und die Profitabilität des ökonomischen Systems zu sichern“, sagt Projektleiter Ingolfur Blühdorn. Auch nach der Finanz-und Bankenkrise 2008/2009 wurde das System durch staatliche Interventionen gestützt, damals um die Wirtschaft zu retten. Das erforderte eine verschärfte Sparpolitik, die unter anderem die Übernutzung natürlicher Ressourcen massiv vorangetrieben hat.

Regulierung Kernaufgabe der Politik

In der staatlichen Intervention, wie sie die Gesellschaft derzeit in der Corona-Krise erlebt, sieht Blühdorn grundsätzlich eine Chance für mehr Gestaltungswillen in der Zukunft, nicht nur zum Schutz der Wirtschaft, sondern auch zum Schutz der sozialen Sicherheit und ökologischen Nachhaltigkeit. Doch angesichts des extrem begrenzten finanziellen Handlungsspielraums auf Jahre hinaus, dürfte sich das Szenario wiederholen, vermutet der Nachhaltigkeitsforscher, indem sich staatliche Interventionen einmal mehr auf möglichst günstige Bedingungen für die Wirtschaft richten werden und nicht auf die Behebung der sozialen, wohlfahrtsstaatlichen und ökologischen Fehler der marktliberalen Jahrzehnte – obwohl letztere die Voraussetzungen für eine „gesunde“ Wirtschaft und soziales Gleichgewicht sind. Regulierungsmaßnahmen seien eine der Kernaufgaben der Politik, bekräftigt Blühdorn. „Die Corona-Krise erinnert uns daran gerade sehr deutlich. Politische Regulierung kann aber nicht eine Frage der wissenschaftlichen oder autokratischen Setzung sein, sondern muss immer demokratisch ausgehandelt werden.“

Zu den Personen

  • Ingolfur Blühdorn ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Gesellschaftstheorie, der Wandel moderner Demokratien und umweltpolitische Theorie.
  • Margaret Haderer ist Politikwissenschaftlerin mit Fokus auf Stadtforschung, Umweltpolitik, politische Theorie und Sozialtheorie.  In dem FWF-Projekt „Urbane Experimente für eine sozial-ökologische Transformation“ (2018-2022) hat sie eine Postdoc-Stelle inne.

Publikationen

->Quelle:  scilog.fwf.ac.at/keine-sozial-oekologische-wende-sicht