Mentales Neuland

Spanien hat aus der verkehrspolitischen Sackgasse herausgefunden – mit frdl. Erlaubnis von ipg-journal

Unter der Regierung Sánchez geht das Land kreative Wege Richtung Klimaschutz. „In Deutschland fällt die Verkehrswende aus“, konstatiert Timo Daum am 26.01.2022 im ipg-Journal. In der Koalitionsvereinbarung der neu gebildeten Ampelregierung werde sie nicht einmal erwähnt. Über die Förderung von Elektroautos hinaus finde sich wenig Klimapolitik im Verkehrssektor, nicht einmal zu einem generellen Tempolimit habe man sich durchringen können. Nach Einschätzung von Christian Hochfeld, Leiter der Agora Verkehrswende, werden so die Klimaziele im Verkehr nicht erreicht.

Verkehr in Berlin – Stau oder S-Bahn, eine Alternative – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Auch auf kommunaler Ebene tut sich in Deutschland wenig in dieser Richtung. In Berlin räumt die ebenfalls neu gebildete Dreierkoalition dem Auto nach wie vor Vorrang ein. Für die inneren Bezirke sind zwar einige Maßnahmen zur Förderung des aktiven Verkehrs vorgesehen, darüber hinaus gilt aber nach wie vor: Das Auto ist Fortbewegungsmittel Nummer eins, verknüpft mit dem Versprechen sozialen Aufstiegs. Anke Borcherding, Mobilitätsmanagerin an der FU Berlin beklagt: „Dieser Senat will gar keine Alternativen zum privaten Pkw entwickeln“.

Ganz anders in Spanien. Hier kann sich die Ministerin für Verkehr, Mobilität und Urbane Agenda, Raquel Sánchez Jiménez (PSOE), ein Leben ohne Privat-Pkw sehr wohl vorstellen. Das sei „keine Wunschvorstellung, sondern Folge der Notwendigkeit, die Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren und die ehrgeizigen europäischen Ziele der Klimaneutralität zu erreichen“. Die Minderheitsregierung des Sozialisten Pedro Sánchez macht ernst mit Klimapolitik und Verkehrswende. In jüngster Zeit brachte sie gleich zwei wegweisende Gesetze für die Verkehrswende auf den Weg – trotz wackliger Bündnisse im Parlament und einer rechten Opposition, die einen ideologischen Feldzug gegen so gut wie jede Maßnahme der Regierung führt.

Im November 2020 trat das königliche Dekret 970/2020 in Kraft, das die spanische Straßenverkehrsordnung geringfügig änderte – allerdings mit großer Wirkung: Es legt ein generelles innerörtliches Tempolimit von 30 km/h oder weniger fest. In Artikel 50 heißt es nun: „Die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Stadtstraßen ist 20 km/h auf Straßen, bei denen Fahrbahn und Gehweg auf gleicher Höhe sind; 30 km/h auf Straßen mit nur einer Fahrbahn pro Fahrtrichtung; und 50 km/h auf Straßen mit zwei oder mehr Fahrspuren pro Fahrtrichtung.“

Schätzungen der spanischen Dirección General de Tráfico zufolge, die etwa dem Kraftfahrtbundesamt entspricht, gilt somit auf 70 bis 80 Prozent aller innerörtlichen Straßen Spaniens eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h oder weniger. Ausgenommen vom generellen Tempolimit sind nur Durchgangsstraßen, die über zwei oder mehr Fahrspuren verfügen. Nur einige wenige Zeilen in der spanischen Straßenverkehrsordnung mussten geändert werden, um eine historische Kehrtwende vorzunehmen, die die Ausrichtung auf die Dominanz des Autos zu korrigieren vermochte.

Kurz darauf legte die spanische Minderheitsregierung, eine Koalition zwischen den Sozialdemokraten (PSOE) und der linken Sammlungsbewegung Podemos, ein umfassendes Gesetz zum Klimawandel und zur Energiewende vor. Das am 20. Mai 2021 endgültig verabschiedete Gesetz versucht, ressortübergreifend Klimaschutz und Dekarbonisierung auf die Tagesordnung zu setzen, und unterstreicht so Spaniens Anstrengungen gegen den Klimawandel. Ausdrückliches Ziel ist es, die Pariser Klimaziele zu erreichen. Das Gesetz beinhaltet eine Vielzahl von Maßnahmen, darunter eine ganze Reihe Vorgaben für den Verkehrssektor. Insbesondere werden alle Städte in Spanien mit mehr als 50 000 Einwohnern verpflichtet, Niedrig-Emissions-Zonen einzurichten, in denen der Betrieb nicht als schadstoffarm gekennzeichneter Fahrzeuge verboten ist. Dies betrifft 149 Städte, in denen insgesamt mehr als 25 Millionen Menschen leben. Das Gesetz verpflichtet die Kommunen, diese Zonen bis 2023 einzurichten.

Warum gelingt es der Regierung von Pedro Sánchez, die in einem sehr polarisierten politischen Kontext agiert, eine derart beherzte Klima- und Verkehrspolitik anzugehen? Ein Teil der Antwort auf diese Frage lautet: Weil es auf kommunaler Ebene jahrelange Erfahrungen mit solchen Maßnahmen gab, die jetzt der nationalen Politik als Vorbild dienen. Insbesondere die sogenannten ciudades del cambio (Städte des Wandels) mit ihren breit verankerten linken Reform-Regierungen konnten in den letzten Jahren fortschrittliche Verkehrspolitik umsetzten. Allen voran die linken Stadtregierungen der Großstädte Barcelona und Valencia, aber auch viele kleinere Städte wie Pontevedra oder Vitoria können erfolgreiche Verkehrswende-Maßnahmen vorweisen.

Spaniens Städte, insbesondere die beiden Großstädte Barcelona und Madrid, sind notorisch schadstoffgeplagt und ersticken förmlich im motorisierten Verkehr. In beiden Städten versuchten fortschrittliche Kommunalregierungen seit Jahren, dem entgegenzuwirken, nicht zuletzt auf Druck der EU-Kommission, die mit Strafzahlungen drohte.

Barcelona steht wie keine andere Stadt für vielfältige Verkehrsberuhigungsprojekte, die sich gegen die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs richten. Da sind zum einen die bekannten Superblocks, urbane Zellen von 400 bis 500 Metern Breite, deren Innenräume verkehrsberuhigt sind. Barcelona gilt auch als Hauptstadt des „taktischen Urbanismus“, einer städtebaulichen Vorgehensweise, bei der Maßnahmen im öffentlichen Straßenraum wie zum Beispiel Pop-Up-Infrastrukturen schnell und unbürokratisch vorgenommen werden.

Auch die Hauptstadt Madrid wurde bis 2019 von einem linken Bündnis unter Führung der charismatischen pensionierten Richterin Manuela Carmena regiert. Es gelang ihr, als zentrale Maßnahme ihrer Legislaturperiode eine Null-Emissionszone im Zentrum Madrids (Madrid Central) einzurichten. Versuche der rechtskonservativ-rechtspopulistischen Regierung, die 2019 das Rathaus eroberte, diese Zone wieder zu schleifen, sind bislang weitgehend gescheitert. Diese und viele weitere Maßnahmen sind nun Wegbereiter eines progressiven nationalen Politik-Rollouts.

Das neue Gesetz macht nun viele der in Madrid und anderen Kommunen erkämpften, getesteten und erfolgreich etablierten Maßnahmen wie die Einrichtung von Niedrig-Emissionszonen zur gesetzlichen Richtlinie. Das Ministerium für den ökologischen Wandel und die demografische Herausforderung unter Führung von Teresa Ribera Rodríguez von den regierenden Sozialdemokraten hat einen Leitfaden für die Umsetzung dieser Maßnahmen erstellt, der die Verpflichtungen deutlich macht: Jede Stadt muss zur „Abmilderung des Klimawandels“ beitragen, also Treibhausgasemissionen reduzieren.

Für die Urbanistin Floridea di Ciommo ist die Unterstützung durch das Gesetz auf nationaler Ebene für die Kommunalpolitik von essenzieller Bedeutung. Eine Einsicht, die auch auf Deutschland übertragbar ist, folgt man den Mobilitätssoziologen Weert Canzler und Andreas Knie: Für eine erfolgreiche Verkehrswende bedürfte es auch bei uns „umfassender Änderungen der gesetzlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen, die bisher einseitig auf das private Auto ausgerichtet sind“, erläutern sie in ihrem Aufsatz „Auslaufmodell Privatauto – von der Notwendigkeit, mentale Pfadabhängigkeiten zu überwinden“.

Für Ministerin Sánchez haben spanische Städte erheblichen Nachholbedarf. Sie nennt zwei Mechanismen, die zu dieser Lage geführt hätten: „Auf der einen Seite die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung, auf der anderen die der Stadtplanung und des privaten Fahrzeugs, beseelt von Immobilienspekulationen.“ Damit macht sie auf einen Zusammenhang von Wohnungspolitik, Gentrifizierung und automobilen Zwängen aufmerksam, der in den letzten Jahren weltweit immer stärker in den Fokus der Debatte gerät. Die charismatische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat mit ihrer beeindruckenden Transformation ihrer Stadt auch über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen gemacht. Auch in Spanien sind es auffallend viele Frauen, die sich als Wegbereiterinnen einer progressiven Verkehrspolitik hervortun.

Spanien hat zwar viel Nachholbedarf, was die Verkehrswende angeht. Die Sánchez-Regierung nutzt jedoch konsequent ihre politischen Spielräume und finanziellen Möglichkeiten – nicht zuletzt die Pandemie-Fördermillionen aus Brüssel – um auf kommunaler Ebene gewonnene Erfahrungen in eine nationale Verkehrswende-Politik umzumünzen. Deutschland kann sich von Spanien die eine oder andere Verkehrswende-Scheibe abschneiden.

Timo Daum ist seit 2020 Fellow der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er ist außerdem als Autor und Hochschuldozent im Bereich Wirtschaftsinformatik und digitale Transformation tätig.

->Quelle: ipg-journal.de/mentales-neuland