Belgiens „Riss-Reaktor“ vom Netz

Tihange 2 endgültig abgeschaltet

Deutsche Politiker und Atomkraftgegner nannten es einen „großen Erfolg“: Nach 40 Jahren Laufzeit ist am 31.01.2023 der umstrittene Reaktor Tihange 2 in Belgien vom Netz gegangen. Doch es gab auch Proteste gegen die Abschaltung. 2012 hatten Fachleute tausende haarfeine Risse im Reaktordruckbehälter des Kernkraftwerks Tihange 2 entdeckt, die aber laut der Atomaufsichtsbehörde „höchstwahrscheinlich“ schon bei der Herstellung 1979 entstanden sind. Der sogenannte „Riss-Reaktor“ steht nur 50 Kilometer entfernt von der deutschen Grenze.

Kühltürme des AKW Tihange – Foto © Michielverbeek – eig. Werk. Liz.u. CC BY-SA 3.0 üb. Wikimedia

Seit 2005 verliert das Abklingbecken von Tihange-1 pro Tag etwa 2 Liter radioaktiven Wassers. Seit Dezember 2016 lief eine Sammelklage der Städteregion Aachen, Maastricht und Wiltz mit Unterstützung der Landesregierungen NRW und Rheinland-Pfalz gegen den Weiterbetrieb von Block 2 vor dem belgischen Gericht Erster Instanz in Brüssel. Das Gericht wies die Klage am 03.09.2020 ab. 2017 waren in der Region für den Fall eines Reaktor-Unfalls bereits Jodtabletten verteilt worden.

2013 bis 2015 sind insgesamt acht sogenannte Precursoren – Zwischenfälle, die unter bestimmten Voraussetzungen zu schweren Schäden am Reaktorkern bis hin zur Kernschmelze führen können, in Tihange-1 vorgekommen – mehr als die Hälfte aller Precursor-Fälle in ganz Belgien. Dies wurde erst Anfang Februar 2018 in Medienberichten laut einem Schreiben der belgischen Atomaufsicht FANK bekannt. Allerdings – so die FANK – seien diese Precursor-Analysen nicht geeignet, Rückschlüsse auf den Sicherheitszustand einzelner Reaktoren zu ziehen. Die Behörde erklärte gegenüber dem WDR-Hörfunk und dem Politikmagazin Monitor, man könne garantieren, dass der Betreiber und die FANK die Sicherheit dieses Reaktors gewährleisteten.

Trotz alledem protestierten in der Nähe des AKW nach Angaben des belgischen Nachrichtensenders LN24 rund 150 Menschen gegen die Abschaltung. „Kernkraftwerke mitten in der Klima- und Energiekrise abzuschalten, ist eine sehr schlechte Idee“, erklärte der deutsche Verein Nuklearia, der die Kundgebung unterstützte. Auch der Vorsitzende der flämischen Separatisten-Partei N-VA und Bürgermeister von Antwerpen, Bart de Wever, nahm an der Kundgebung teil. Er kritisierte das „überstürzte“ Herunterfahren des Meilers. Im Ukraine-Krieg sei die Atomkraft eine Frage der europäischen Sicherheit, sagte er LN24.

Belgische AKW laufen zehn Jahre länger

Die Laufzeitverlängerung war bereits beschlossen, nun hat sich die belgische Regierung mit dem Energiekonzern Engie in letzten Detailfragen geeinigt. Die AKW Tihange 3 und Doel 4 sollen zehn Jahre länger laufen – auch wegen des Ukraine-Kriegs. Die belgische Regierung und der Energiekonzern Engie haben sich auf die Laufzeitverlängerung der zwei Atomkraftwerke Tihange 3 und Doel 4 um zehn zusätzliche Jahre geeinigt. Die Verlängerung sei entscheidend, um die Energieversorgungssicherheit in den nächsten zehn Jahren zu gewährleisten, sagte der belgischen Premierminister Alexander De Croo.

Tihange ist einer von zwei in Betrieb befindlichen Kernkraftwerksstandorten in Belgien; der andere ist das Kernkraftwerk Doel im Hafen von Antwerpen. Die drei Kernreaktoren in Tihange und vier in Doel werden von Engie Electrabel betrieben, dem belgischen Tochterunternehmen des französischen Konzerns Engie. Deutsche Politiker und Atomkraftgegner begrüßten die Abschaltung. Sie kämpften jahrelang für das Aus des Reaktors rund 50 Kilometer von der deutschen Grenze. Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke hatte sich im Vorfeld positiv geäußert. Die Stilllegung „sorgt für deutlich mehr Sicherheit in unseren beiden Ländern“, sagte die Grünen-Politikerin der „Rheinischen Post„.

Am 31. Januar 2023 wurde Reaktorblock 2 endgültig heruntergefahren. Der Reaktorblock 3 wird dagegen nach einer Entscheidung der belgischen Regierung vom März 2022 nach entsprechenden Umbauten ab 2026 bis zum Jahr 2035 weiter in Betrieb bleiben. Die ursprünglichen Pläne zum kompletten Atomausstieg Belgiens zum Jahr 2025 wurden damit revidiert. Der wesentliche Grund für den Ausstieg aus dem Ausstieg war der Beginn des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine und die damit verbundene Unsicherheit der Energieversorgung. Aber nicht nur Nordrhein-Westfalen werde durch das Aus für die Pannenmeiler sicherer, wie Landes-Umweltminister Oliver Krischer (Grüne) betonte.

Zuletzt deckten die belgischen Kernkraftwerke rund die Hälfte des nationalen Strombedarfs. Die Abschaltungen sind auch umstritten, da zunächst fossiles Gas die Lücke schließen soll. Das ist klimaschädlich, während Atomenergie aus Sicht der Befürworter „sauber“ ist. Zudem hat das hoch verschuldete Belgien deutlich weniger Spielraum als etwa Deutschland, teures Gas auf dem Weltmarkt zu kaufen. In Aachen sorgt das Reaktor-Aus zwei Wochen vor Karneval dennoch für gute Laune. Karnevalesk klingt auch das Motto der Feiern, die Atomkraftgegner in der Domstadt angekündigt haben. Es lautet: „Tihange zwei: aus und vorbei.“

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