„Große Transformation und die Medien“

Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI): Resonanz und Ignoranz – Roland Zieschank

Roland Zieschank bei Tagung 'Große Transformation' - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify 20170710

Roland Zieschank, FFU-Projektleiter und Mitveranstalter der Tagung, berichtete, dass die Entwicklung einer anderen Sicht auf das Wirtschaftswachstum 2007 im Projekt mit den Indikatoren der NNHS (Nationale Nachhaltigkeits-Strategie) begonnen habe. Ursache dafür waren fehlende oder falsche Bilanzierungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beim BIP – so werden z.B. Umweltfolgen nicht berechnet, ebenso wenig die Verteilung des BIP, defensive Kosten sind wohlstandssteigernd (mehr Autounfälle verursachen Wirtschaftswachstum) – dazu kommt Naturvergessenheit und soziale Gleichgültigkeit des BIP. Das BMUB habe 2016 „Bauernregeln“ aufgestellt, wie z.B. die Bauernregel 3: „Zu viel Dünger auf dem Feld, geht erst ins Wasser, dann ins Geld“ – leider seien die dann wieder zurückgezogen worden. Dieser kurze Merksatz illustriere aber gut, dass erstens Boden- und Gewässerverschmutzungen eigentlich kein Thema der BIP-Bilanzierung seien und dieser Vorgang nur dann eine Rolle spielt, wenn die Trinkwasserpreise steigen. Dann aber als positiver Beitrag zur BIP-Steigerung.

Voraussetzung für die neuen Indikatoren des Nationalen Wohlfahrtsindexes sei die „Dekonstruktion des Leitbildes quantitativen Wachstums“ gewesen – im Kontext des Nachhaltigkeitsziels. Der NWI sei ein „Informationsinstrument für Politik und Gesellschaft“ – aber auch ein Kommunikationsinstrument. Dessen ungeachtet habe man Erfahrungen mit Resonanz und Ignoranz machen müssen. Folgen der Dekonstruktion: Geringere soziale Erosion und Degradierung der Natur, sowie Investitionen in die Erhaltung von Human- und Naturkapital.

Die Berechnung des BIP lasse erkennen, dass in die gängige Statistik im Ergebnis Ausgaben einflössen, die gerade nicht wohlfahrtssteigernd seien, wie die Folgekosten des Alkohol-, Tabak und Drogenmissbrauchs. Drogenmissbrauch z.B. schädige die Wirtschaft um 65 Mrd. Euro – und ist mitnichten wohlstandsfördernd. Der neue Wohlstandsindex biete, verglichen mit dem BIP – die bessere Berechnung des volkswirtschaftlichen Wachstums.

Die Mainstream-These lautet immer noch: „Wirtschaftswachstum als Grundlage für Wohlstand und Zufriedenheit“ – die Gegenthese: „Wohlstand ist umfassender, zuzüglich sozialer Reichtum, sogenanntes ‚Sozialkapital‘, zuzüglich ökologischer Reichtum, sogenanntes ‚Naturkapital'“- allerdings sei dieser umfassendere Reichtum bedroht von „Gefährdung und Degradierung“.

Die Diskrepanz zwischen den Kurven von BIP und NWI belege, dass „illusionärer Wohlstand“ entstehe. Daher müsse die Frage gestellt werden, welche Ziele und Wege verfolgt werden sollten – in der Folge müsse in Alternativen eingestiegen werden, als da wären: Sozialere Einkommensverteilung, ökologische Transformation in Richtung „Green Economy“, kulturelle Transformation: Status von materiellen Gütern – schließlich Prüfung von Suffizienzstrategien.

Insofern müsse das klare Leitmotiv „gesellschaftliche Wohlfahrt“ sein – ein Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI), der über die bloße Wertschöpfung hinaus z.B. ökologische oder soziale Folgen berücksichtigt. Der NWI biete ein Modell mit Annahmen darüber, welche Faktoren die Wohlfahrt steigern und welche nicht: Es würden 20 ökonomische, ökologische und soziale Komponenten erfasst. Inzwischen liegt er für mehrere Bundesländer vor: Schleswig-Holstein, Bayern, Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Klares Leitmotiv des NWI sei die gesellschaftliche Wohlfahrt. Eine Indikatoren-Diskussion führe aber immer auch zu Zieldiskussionen. Nötig sei ein Entwicklungsvergleich BIP-NWI als empirische Basis für gesellschaftlichen Diskurs, dabei ermöglicht der NWI mit seinen Teilkomponenten auch eine entsprechende Fokussierung und Legitimation neuer politischer Programme. Die Effekte veränderter politischer
Strategien könnten mit dem NWI dokumentiert werden und auch in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche sei eine positive Bilanzierung möglich. Schließlich seien internationale Konzepte für regionale Strategien nutzbar.

Zieschank berichtete dann über Erfahrungen und Resonanz der NWI-Diskussion: Er sei immerhin in das Umweltprogramm 2030 des BMUB aufgenommen worden – ebenso in in „Daten zur Umwelt“ des UBA 2017. Der NWI habe den medialen Untergang der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ als Index überlebt und offizielle Veröffentlichungen auf Bund-Länder-Ebene ausgelöst, wenn auch die weitere Arbeit mit Konfliktfeldern und sich ständig verändernden Interessenkonstellationen verbunden ist..

Erfahrungen – Befürchtungen: Auf der ministerialen Ebene (Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft) halte sich Widerstand gegen den NWI, indem er nicht in die Fortschrittsberichte der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen werde. Dazu kämen Bedenken der großen Wirtschaftsforschungsinstitute, schließlich die Angst der Verantwortlichen vor der entstehenden Situation; daher wollten sie am liebsten die Ergebnisse schon vor der Bilanzierung, um sich vorab darauf einstellen zu können. Regierungsparteien erwarteten/erhofften sich als Ergebnisse eine Entwicklung nach oben, Oppositionsparteien möglichst eine solche nach unten. Zieschanks „Fazit 1“: „Der NWI ist insgesamt der bekannteste unbeliebte Index jenseits des BIP in Deutschland“.

Schließlich zitierte Zieschank als „Fazit 2″unter der Überschrift „Paradise Lost“ aus der Bertelsmann-Untersuchung „Wirtschaft im Wandel“ von 2016: „Über Jahrzehnte bot sie (die soziale Marktwirtschaft) Wirtschaft und Gesellschaft ein verlässliches Leitbild – doch das droht verloren zu gehen. Der Bundesrepublik kommt die gemeinsame Erzählung abhanden.“

Kai Niebert: Große Transformation – wie wird sie in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft kommuniziert?

Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzrings und Professor an der Universität Zürich begann mit zwei Erkenntnissen:

  1. das Anthropozän als neue Erdepoche – wir Menschen hätten die Erde völlig verändert
  2. neue internationale Übereinkommen, von den Regierungen unterzeichnet: jetzt müssten wir die Glaubwürdigkeits- und Vollzugsdefizite anprangern

Kai Niebert bei Tagung 'Große Transformation' - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify 20170710Öko-Schul-Programme beeinflussen nicht die Einstellungen und Tagesabläufe von Schülern„, zitiert Niebert die Ergebnisse einer nicht näher spezifizierten Untersuchung. Zehn Jahre Nationale Biodiversitätsstrategie seien ohne Erfolg geblieben – dabei sei doch die offiziell erwartete Reaktion: mehr Umwelt- und Naturbewusstsein! Sehr aufschlussreich ein Vergleich von bürgerlichem Mainstream, kritisch-kreativem Milieu und prekären Milieus:

Der bürgerliche Mainstream habe unterdurchschnittliche Umwelteinstellungen und überdurchschnittlichen Ressourcen- und Energiekonsum – kritisch-kreative Milieus dagegen hätten sehr positive Umwelteinstellungen, aber extremen Ressourcen- und Energiekonsum; prekäre Milieus dagegen sehr schlechte Umwelteinstellungen, aber sehr geringen Ressourcen- und Energiekonsum.

Am Beispiel des Ozonlochs („FCKW hat eine stärkere Lobby als CO2„) zeigte Niebert, dass politische Entscheidungen notwendig sind – der „mündige Bürger“ könne nämlich rechnen – wenn Fliegen billiger sei als Zugfahren, fliege er nämlich. „Wir könnten heute den gesamten ÖPNV kostenlos machen“, dann, wenn wir jährlich 5 Mrd. Pendlerpauschale streichen würden – das hätte riesige Lenkungswirkung für die Mobilität. Die Geschichten vom Siebenmeilenstiefel, Tischleindeckdich und Goldesel seien Ausdruck eines kulturellen Bedürfnisses: Grenzenlose Mobilität, immer Nahrung und unendlich viel Geld. „Die Siebenmeilenstiefel heißen heute Ryan-Air“. Weiteres Beispiel: „261 Sorten Deodorants versprechen 96 Stunden Geruchsfreiheit – das ist völlig sinnlos – wer von Ihnen hat denn vier Tage nicht geduscht? – aber das ‚Mehr‘, ‚Höher‘ oder ‚Schneller‘ muss einfach besser sein…“

Aufklärung allein reiche nicht. Die Menschen machten bei persönlichen Entscheidungen weniger Gebrauch von wissenschaftlichen oder expliziten Kenntnissen als von ihrem Bauchgefühl. Wie aber dann Botschaften formulieren? „Wir wissen viel davon, was 2050 nicht mehr geht, aber wir müssen mehr darüber reden, was geht. Welche Botschaften vermitteln?“

  • Von „Kohleausstieg“ zu „sauberer Energie“ – Verneinungen verstärken. Selbst „Erneuerbare Energien“ sind ambivalent besetzt.
  • „Ökosteuer“ hat einmal funktioniert, kriegt man aber nicht rüber – „Verschmutzungsabgabe“ wäre besser.
  • Von „Dekarbonisierung“ hin zu“Erneuerung der Infrastruktur“

Was kosten die Entscheidungen die dafür nötig sind? Man muss über ein Infrastruktur-Erneuerungspaket reden.

Und was ist nun die kommunikative Alternative zum Wachstum? Von „Degrowth“ hin zu „Deutschland ist erwachsen“ – das wäre ein ganz anderes Bild. Umweltorganisationen hätten einen riesigen Fehler begangen: Nachhaltigkeit als Gleichgewicht zwischen ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit. Kein Gegeneinander von Schnittmengen, sondern konzentrische Kreise [der Doughnut]. Ebenso die SDGs konzentrisch anordnen! Und: Ziele immer wieder auf Kohärenz prüfen!

Folgt: Wachstum im Wandel – Erfahrungen mit der Kommunikation integrierter Nachhaltigkeitspolitik in Österreich