All-Parteien-Koalition der Sprachlosigkeit

Klimawandel macht ernst – die Wahlkämpfer schweigen

ein Kommentar von Christfried Lenz

Über dem gesamten Mittelmeerraum liegt eine ungewöhnliche Hitze- und Trockenheitsglocke. Italien ruft den Trinkwassernotstand für Latium und Umbrien aus und verlängert die Notstandserklärung für sizilianische Provinzen. Die Wasserentnahme aus dem Reservoir Roms wird um mehr als die Hälfte reduziert.[note Kommentare geben Meinung und Informationen der Kommentierenden wieder, nicht in jedem Fall die von Solarify.] Nun erwartet man die Verlagerung der Bruthitze in östlicher Richtung. Griechenland bereitet kühlbare Hallen für Menschen vor, die es in ihren Wohnungen bei über 30 °C Nachttemperatur nicht mehr aushalten. – Woher soll das Wasser zum Löschen der zunehmenden Waldbrände kommen? Welche Auswirkungen auf die Ernte sind zu erwarten? – Und, und…?

Im Alpenbereich wüten Unwetter mit Starkregen, Erdrutschen und Todesopfern. Ganze Täler sind tageweise von der Außenwelt abgeschlossen. Die Brandenburgische Ministerin Diana Golze wurde am 10.08.2017  in ihrem Norditalien-Urlaub von einem umstürzenden Baum schwer verletzt.

Auch Deutschland ist von Unwettern mit Todesopfern, Überflutungen und Schlammlawinen betroffen. In Sachsen-Anhalt wurde die Quote der überflutungsgefährdeten Grundstücke von 1,83% im letzten Jahr auf 2,48% erhöht. Damit fallen 16 934 Grundstücke in die höchsten ZÜRS-Gefährdungsklassen 3 und 4 (ZÜRS = Zonierungssystem für Überschwemmung, Rückstau und Starkregen). Die Verbraucherzentrale rechnet damit, dass es für die betroffenen Grundstückseigner teurer und schwieriger wird, eine Elementarschadenversicherung abzuschließen.

Die Bevölkerung zeigt Bewusstheit: 71% der von EMNID befragten nannten die Veränderung des Weltklimas als Grund ihrer größten Sorge.

Den Matadoren des Bundestagswahlkampfes ist all dies nicht der Rede wert. Die  Grünen haben dem Klimaschutz die Ehre erwiesen, ihn auf Position 1 ihres Wahlprogramms zu platzieren und scheinen der Auffassung zu sein, damit ihrer Pflicht Genüge getan zu haben. Auf aktuelle Äußerungen, wie sie sich dazu stellen, dass der Klimawandel offensichtlich in ein neues Stadium eintritt, wartet man vergebens. Zustimmung zur „Ehe für alle“ machen sie zur Voraussetzung einer Regierungsbeteiligung. Was zu tun ist, um unsere elementaren Lebensvoraussetzzungen zu erhalten, betrachten sie als weniger wichtig.

Die Kanzlerin lässt es mit einigen salbungsvollen Worten bewenden, gerichtet an ein internationales Publikum, von dem keine Nachfragen zur Umsetzung zu erwarten sind: „Wir brauchen dieses Pariser Abkommen, um unsere Schöpfung zu bewahren. Nichts wird uns dabei aufhalten.“

Den SPD-Wahlkampf mit Martin Schulz kann man leider nur als Trauerspiel bezeichnen. Dabei hätte Schulz die Möglichkeit, sich von Altkanzler Schröder anregen zu lassen: Im Wahljahr 2002 war das große Elbe-“Jahrhunderthochwasser“. Schröder erkannte die Chance. Er unterstützte vorbildlich Problemlösungen vor Ort und lenkte gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Bedeutung von Klimaschutz und Energiewende. Folge: Die rot-grüne Koalition konnte nach der Wahl weitergeführt werden.

Schulz hätte heute noch drastischere Argumente als Schröder, um sich u.a. mit folgenden Vorhaben zu profilieren:

  • Statt Deckelung des Ausbaues der erneuerbaren Energien Mindestausbauziele, die wesentlich oberhalb der derzeitigen Deckel liegen
  • Mieterstrom nicht in Feigenblattgröße, sondern als soziale Tat auf breiter Front, womit ein riesiges brach liegendes Dachflächenpotenzial in den Städten zur Energieerzeugung erschlossen würde
  • Beseitigung der massiven Chancenungleichheit auf dem Strommarkt durch Abbau der Subventionen für konventionelle Energien und Berücksichtigung der durch die jeweilige Art der Energieerzeugung verursachten externen Kosten im Strompreis
  • Lichtung des Bürokratie-Dschungels in EEG und umliegenden Bestimmungen, um freie Bahn für kreative, dezentrale und neue Lösungen zu schaffen
  • ein neues und höheres Niveau von Demokratie wagen, indem Millionen Menschen nicht nur Repräsentanten wählen, sondern als „Prosumer“ Selbstverantwortung für den grundlegenden Wirtschaftszweig, die Energieerzeugung, übernehmen.

SPD, Grüne und Linke sollten umgehend Gespräche aufnehmen, wie sie Klimaschutz und Energiewende im Fall einer gemeinsamen Koalition gestalten würden.

[note Der Autor Christfried Lenz ist unter anderem Musikwissenschaftler, Organist und Rundfunkautor. Er ist in der 68er Studentenbewegung politisiert worden. Ein Grundzug seines Bestrebens ist „Verbindung von Hand- und Kopfarbeit“: Theorie ja, aber immer mit Übersetzung in die Praxis! So versorgt er sich in seinem Haus in der Altmark (Sachsen-Anhalt) seit 2013 zu 100 Prozent mit dem Strom seiner PV-Inselanlage. Nach erfolgreicher Beendigung des Kampfes der BI „Kein CO2-Endlager Altmark“ engagiert er sich ganz für den Ausbau der EE in der Region, z.B. als Vorstandsmitglied der aus der BI hervorgegangenen BürgerEnergieAltmark eG, die in Salzwedel eine 750 Kilowatt-Freiflächenanlage betreibt. Christfried Lenz kommentiert das energiepolitische Geschehen in verschiedenen Medien und mobilisiert zu praktischen Aktionen für die Energiewende.]

[note Der Kommentar ging inzwischen leicht abgewandelt als Offener Brief an den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz – hier zum Download.]