Der europäische Emissionshandel EU-ETS

In der Theorie schön, in der Praxis ein Desaster

Gastkommentar von Patrick Graichen, Agora Energiewende

Im umweltökonomischen Lehrbuch ist die Sache mit dem Emissionshandel (englisch: Cap-and-Trade) ganz einfach: Die Gesellschaft definiert für einen Schadstoff, welches Verschmutzungsniveau für die Umwelt gerade noch verträglich ist (Cap), vergibt an die potenziellen Verschmutzer Zertifikate, die diesem Niveau entsprechen, und überlässt den Rest dann dem Markt (Trade). Es bildet sich dann ein Marktpreis heraus, der sich an den Kosten der jeweiligen Vermeidungstechnologien orientiert – und das Umweltziel wird zu den niedrigstmöglichen Kosten erreicht. Weitere Instrumente sind nicht nur überflüssig, sondern schaden dem Ziel eines kosteneffizienten Umweltschutzes. Soweit die Theorie.

Wenn man aber auf den CO2-Emissionshandel in Europa schaut, kommt der Praxisschock. So wurde das Cap nicht aus Klimaschutz-Erwägungen hergeleitet, sondern politisch festgelegt auf Basis einer ökonomischen Abschätzung der EU-Kommission aus dem Jahr 2007 zu künftigen CO2-Vermeidungskosten und der erwarteten wirtschaftlicher Entwicklung bis 2020. Und weil die EU-Mitgliedstaaten dann noch Angst hatten, dass die EU-Kommission zu hart gerechnet haben könnte, wurden massenhaft Zertifikate aus dem außereuropäischen Ausland (JI- und CDM-Zertifikate) zugelassen. In der Realität zeigte sich dann aber, dass die EU-Kommission sich grandios verschätzt hatte und das Cap der zulässigen Emissionen seit 2009 kontinuierlich über den tatsächlichen Emissionen liegt. Wir hätten also das Ganze sein lassen können und die Emissionen wären auch nicht höher gewesen. Hinzu kommt noch, dass sich die allermeisten JI/CDM-Zertifikate aus China, Russland und der Ukraine als wertloser Bluff herausgestellt haben, die keine einzige zusätzliche Tonne CO2 gemindert haben. Die Folge: Der EU-Emissionshandel weist aktuell einen Zertifikateüberschuss („heiße Luft“) von über 3 Milliarden Tonnen CO2 und einen CO2-Preis von etwa 5 Euro auf – er ist komplett wirkungslos. Das traurige Bild des realexistierenden Emissionshandels hat insofern gar nichts mit kosteneffizienten Klimaschutz zu tun, wie man ihn aus dem Lehrbuch kennt.

Der Emissionshandel als Teil eines Instrumentenmix

In einer solchen Situation geht es jetzt darum, den EU-Emissionshandel zu reformieren, um diesen Zertifikateüberschuss nach und nach loszuwerden. Die aktuellen Verhandlungen in Brüssel sind da grundsätzlich auf einem richtigen Weg. Bis der EU-Emissionshandel aber tatsächlich wirksam zu Emissionsminderungen führt, werden noch viele Jahre vergehen. In der Zwischenzeit sollten wir uns darüber freuen, dass wir nicht den Vorschlägen der Ökonomen gefolgt sind, die alle anderen klimapolitischen Instrumente (wie etwa das EEG oder Effizienz-Maßnahmen) abschaffen wollten – und daran arbeiten, diese zu verbessern und um noch fehlende Instrumente, wie etwa ein wirksames Kohleausstiegskonzept, zu ergänzen. Und dann, wenn der EU-Emissionshandel wieder funktioniert, sollten wir den Emissionshandel nicht mehr als Allheilmittel für alle Sektoren betrachten, sondern ihm als ein Instrument unter vielen einen sinnvollen Platz im Instrumentenmix zuweisen – neben Steuern, Ordnungsrecht, Ausschreibungen und anderen (Förder-)Maßnahmen.

[note Dr. Patrick Graichen ist seit Januar 2014 Direktor von Agora Energiewende. Zuvor war er als stellvertretender Direktor tätig. Von 2001 bis 2012 hat er im Bundesumweltministerium gearbeitet – zunächst im Bereich der internationalen Klimapolitik, von 2004 bis 2006 als Persönlicher Referent des Staatssekretärs und ab 2007 als Referatsleiter für Energie- und Klimapolitik. In dieser Zeit hat er unter anderem die Ausgestaltung der ökonomischen Instrumente des Kyoto-Protokolls, das Integrierte Energie- und Klimaprogramm der Bundesregierung von 2007, das EU-Klima- und Energiepaket 2008 und die Gesetzgebungsverfahren im Bereich des Energiewirtschaftsrechts federführend verhandelt. Das Bundesumweltministerium hat Patrick Graichen für seine Tätigkeit bei Agora Energiewende beurlaubt. Er hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und am Interdisziplinären Institut für Umweltökonomie der Universität Heidelberg über kommunale Energiepolitik promoviert.]