130 Jahre Urania – 130 Jahre Wissenschaft für alle – Festakt

Harald Lesch über Wahrheit

Der aus zahlreichen Fernsehsendungen bekannte Astrophysiker und Naturphilosoph Harald Lesch bezog sich zu Beginn seines Festvortrags über die „Wahrheit“ auf den Beginn mit der Schildkröte: Vor sein Büro habe jemand ein Plakat gehängt mit der Aufschrift: „Harald Lesch ist ein Erdkugel-Faschist“. Lesch lobte daraufhin den Irrtum als Movens der Wissenschaft: „Wir irren uns empor“, zitierte er den Wissenschaftsphilosophen Gerhard Vollmer. Der hatte sich damit beschäftigt, dass gerade die empirische Forschung stets nur vorübergehende Wahrheiten präsentieren kann und darf. Empirische Hypothesen müssten immer an der Erfahrung, das heißt am Experiment oder der Beobachtung, scheitern können. Nur dann werden Hypothesen als fruchtbar weiterverfolgt. Auf der Suche nach der Wahrheit sei der Irrtum ein willkommener und höchst wichtiger Begleiter. Mit den Ergebnissen der immer wieder geklärten Irrtümer könne man zufrieden sein. Lesch hielt es nicht so sehr mit der „Tugend der Demut“ – ihm gefiel der Satz „Bescheidenheit ist die schlimmste Form der Eitelkeit“ von Charles Foucauld besser. Als Peter Higgs 1964 die Existenz des später nach ihm benannten Teilchens vorhergesagt habe, „hatte er keine Ahnung davon, was für eine Riesen-Maschine man bauen muss, um die Existenz des Teilchens zu beweisen“, was erst 2012 geschehen sei. Wenn man heute jemandem im Weltall begegne und sage ihm „125 Giga-Elektronenvolt“, dann wisse der sofort, dass es sich um das Higgs-Teilchen handle – eine im ganzen Weltall bekannte Größe.

Im Rahmen seiner Erkundung des Wahrheitstitels kam Lesch auf den Begriff des „Tausendstel“, das sei sehr klein, aber wie klein, wüssten wir nicht. Wir könnten heute Längen messen, kleiner als ein Proton, und „ein Proton ist bereits so winzig, dass ein Gramm unseres Fingers eine Million Trillionen davon enthält – das sagen die, und wir glauben das. Ist das die Wahrheit? Nichts als die Wahrheit? Ist das die Wahrheit, die hinter den Messergebnissen steckt?“ Das wirkliche Problem bestehe darin, dass wir in der Wissenschaft eine „Über-Genauigkeit geschaffen“ hätten. Über die normalen Vorstellungen hinausgehend – „glauben Sie doch bloß nicht, dass sich die Wissenschaftler vorstellen können, was ein Tausendstel Protonen-Radius ist – 10-18 Meter, ich bitte Sie! So kleingeistig sind wir nicht.“ Aber, so Lesch, wir könnten damit umgehen, weil wir Relationen hätten. Wenn ein Atom so groß sei wie ein Bundesligastadion, dann sei der Atomkern so groß wie ein Reiskorn auf dem Anstoßpunkt – „aber davon eben nur ein Tausdendstel“.

„Man würde sogar sagen, dass diese empirische Methode der Wahrheitssuche der Wahrheit nur nahe kommt, immer näher kommt, sie aber nie vollständig erreicht. Denn es könnte ja sein, dass wir uns ein bisschen vertan haben, wobei man sagen muss: Bei 26 Stellen hinterm Komma, das sind schon Korinthenkackereien.“ Es gehe aber darum, präzise und immer genauer zu sein, um genau zu überprüfen, ob die Grundfesten der Naturwissenschaften, die wir da schon längst identifiziert hätten, wirklich stabil sind, oder ob wir befürchten müssten, die Welt werde eines Tages in sich zusammenbrechen, so wie das eine oder andere kosmologische Modell, durch das uns immer wieder gezeigt habe, nach dem Anfang könnte es auch wieder ein Ende geben. „Heute stehen wir vor einem Universum, das uns in weiten Teilen vor ganz merkwürdige Fragen stellt, gerade, weil sie aus Komponenten bestehen, die wir überhaupt nicht einordnen können, das heißt: Auf der Suche nach Wahrheit haben wir Wahrheitsinseln entdeckt – und mit diesen Wahrheitsinseln, wenn sie nicht gerade kosmologisch oder Elementarteilchen sind, gehen wir in unserer Gesellschaft ganz merkwürdig um.“ Alle freuten sich, wenn Gravitationswellen entdeckt worden seien: „Hurra! Wunderbar!“ Wenn wieder irgendein extrasolares Planetensystem entdeckt worden sei – super! Oder das Higgs-Teichen – großartig!

Aber wenn es dann darum gehe, dass die gleiche Physik, die eben noch mitten in den Kern eines Atoms vorgestoßen sei, uns erklärt, dass die Wärmestrahlung der Erde von im Vergleich dazu gewaltigen Kohlendioxidmolekülen absorbiert und emittiert werde, und damit einen Effekt erzeuge, der unser Leben auf diesem Planeten überhaupt erst möglich gemacht habe, der aber natürlich in seiner Über-Form, dadurch, dass wir viel zu viel von diesen Treibhaus-effektiven Gasen in die Atmosphäre jagten, uns inzwischen eine globale Erwärmung beschere, mit der wir uns in den nächsten Jahrzehnten, möglicherweise Jahrhunderten herumschlagen würden – dann heiße es: „Moment! So gut kennt Ihr das doch gar nicht! Ja – Ihr könnt ja diese kleinen Teile finden, aber diese Moleküle da… nein, nein, nein.“ Es mache eben einen Unterschied, ob etwas interessant sei oder relevant. Bei den interessanten Dingen, da akzeptierten wir die Kenntnisse derer, die das machten. Zur allgemeinen Relativitätstheorie könne man keine Meinung haben, die müsse man rechnen oder messen. Aber wenn es dann darum gehe, aus den wissenschaftlichen Ergebnissen etwas zu machen, also Handlungen zu vollziehen, möglicherweise Konsequenzen zu ziehen…: „O Gott, o Gott, o Gott!“ Denn ändere sich die Wahrheitssuche schnell in: „Können wir denn nicht was anderes suchen? Ihr seid doch schlaue Leute in den Wissenschaften und habt doch bis jetzt immer etwas gefunden… Ich renoviere doch jetzt nicht mein Leben, ich hatte doch meine Wahrheit für mich gefunden, es ging mir doch gut – und jetzt kommen Sie und sagen: Nein…!.“

Folgt: Wahrheit, die uns keiner mehr erklären kann