Antarktis-Eis schmilzt immer schneller

Nature: Treibhaus-Effekt stärker als erwartet

„Dramatisch: Eisschmelze in der Antarktis hat sich in letzten 10 Jahren verdreifacht – Wissenschaftler warnen: schlimmste Befürchtungen werden übertroffen – Zeitfenster zum Gegensteuern 10 Jahre!“ twitterte Klima- und Energieexperte Jürgen Döschner vom WDR und verwies auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 13.06.2018: „Zwischen 1992 und 2011 lag die Einbuße im Mittel bei 76 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr, zwischen 2012 und 2017 betrug der jährliche Verlust 219 Milliarden Tonnen. Diese Zahlen stammen aus der bislang größten Bilanzrechnung für den Südkontinent. Allein das seit 1992 geschmolzene Antarktiseis hat den Meeresspiegel um 7,6 Millimeter steigen lassen,“ hatte Christopher Schrader geschrieben.

Die Antarktis habe in den vergangenen 25 Jahren etwa drei Billionen Tonnen Eis verloren. Die jährliche Rate sei dabei zuletzt stark gestiegen. Die Wassermenge entspreche dem 48fachen des jährlichen Wasserverbrauchs in Deutschland. Diese Zahlen entnahm Schrader der bislang größten Bilanzrechnung für das Antarktiseis von Wissenschaftlern: Danach sind die Meeresspiegel weltweit aufgrund der Eisverluste Antarktis seit 1992 um 7,6 mm gestiegen, davon allein zwei Fünftel (3 mm) in den vergangenen fünf Jahren. Das ist eines der Ergebnisse des so genannten Ice Sheet Mass Balance Intercomparison Exercise (IMBIE) genannten Projekts, dem bisher umfassendsten Bild der Veränderung des antarktischen Eisschildes: 84 Wissenschaftler von 44 internationalen Organisationen haben für die Untersuchung 24 Satellitenmessungen ausgewertet, und die Arbeit am 14.06.2018 in Nature veröffentlicht.

Vor 2012 verlor die Antarktis pro Jahr kontinuierlich 76 Milliarden Tonnen Eis, mehr als der Inhalt des Bodensees – und ließ damit den globalen Meeresspiegel jährlich um 0,2 Millimeter ansteigen. Zwischen 2012 und 2017 verlor der Kontinent jährlich 219 Mrd. t Eis, so dass sich der Beitrag zum Meeresspiegelanstieg auf 0,6 Millimeter pro Jahr verdreifachte. Das bedeutet, dass die Antarktis mit etwa einem Drittel zur gegenwärtigen Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs beiträgt.

Das Wissenschaftsmagazin bündelt eben in einem sogenannten Nature Insight eine ganze Reihe von Neuen Erkenntnissen über die Antarktis. In einem Editorial zu diesem Insight schreibt Michael White, leitender Redakteur bei nature: „Ein ununterbrochener Faden aus Entdeckung, Triumph und des Mysterium – angefacht von Katastrophen, Ausbeutung und Elend – zieht sich durch den Umgang der Menschheit mit der Antarktis. Die Beziehung ist zerrissen von Konflikten, und oft sind heroische Interventionen erforderlich: Erinnernd an unvorstellbares Leid und düstere Aussichten, sagte der Geologe und Entdecker Raymond Priestley einmal ‚…. geh auf die Knie und bete für Shackleton‘. Heute inspiriert Shackleton zwar immer noch, aber die Situation ist weitgehend umgekehrt. Anstelle von Menschen, die Rettung aus der Umklammerung der Antarktis suchen, ist es die Antarktis selbst, die Schutz vor der Menschheit suchen muss.“

Das Nature Insight über die Antarktis dokumentiert etliche Facetten aus Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft der Antarktis:

  1. Im ersten Bericht (Antarctic and global climate history viewed from ice cores – Antarktische und weltweite Klimageschichte mit Hilfe von Eisbohrkernen betrachtet) stellen Ed Brook und Christo Buizert anhand von 800.000 Jahre Klima- und Atmosphärengeschichte die Reaktion der Antarktis und ihren Einfluss auf das weitere Klimasystem dar.
  2. Steve Rintoul betrachtet dann den riesigen Südlichen Ozean (The global influence of localized dynamics in the Southern Ocean – Globale Auswirkungen lokalisierter Dynamiken im Südlichen Ozean) und zeigt, dass lokale Prozesse das Gesamtsystem antreiben – wie etwa das wirbelgetriebene Vermischen, das sich aus der aktuellen Interaktion mit der Topographie des Bodens ergibt.
  3. Eine alarmierende Menge (mehr als 50 Meter) Meeresspiegel-Anstieg lauert im antarktischen Eisschild, und ein erster Schritt zum Verständnis des Schicksals des Eises ist die Kenntnis des aktuellen Massenungleichgewichts. In einer Analyse (Mass balance of the Antarctic Ice Sheet from 1992 to 2017 – Massenbilanz des antarktischen Eispanzers von 1992 bis 2017) führt das IMBIE-Team die sich verlängernde Fernerkundungsbilanz zusammen und zeigt einen sich beschleunigenden Trend zum Eisverlust auf.
  4. Dann diskutieren Andy Shepherd, Helen Amanda Fricker und Sinead Louise Farrell in einem Artikel die eng miteinander verknüpften Prozesse, die die jüngsten Trends im antarktischen Meereis, Eisschelfeis und geerdetem Eis bestimmen.
  5. In einer Science-Fiktion-ähnlichen Perspektive (Choosing the Future of Antarctica – Die Zukunft der Antarktis wählen), die sich aus einer Podiumsdiskussion im Jahr 2014 mit den Gewinnern des Tinker-Muse Prize for Science and Policy in Antarctica ergibt, präsentieren Steve Rintoul und Kollegen zwei Visionen der Antarktis im Jahr 2070 – eine sehr ungewöhnliche Sichtweise eines Wissenschaftszeitschrift: In der einen nimmt der Appetit der Menschheit auf Ressourcen und fossile Brennstoffe weiter zu und die Regierungsmassnahmen werden schwächer; in der anderen wird die weltweite Entwicklung mit einem stärkeren Akzent auf Erhaltung, Eindämmung und starke Regierungsführung vorausgesehen.

Bisher unerreichte Genauigkeit

Aus dem Abstract des IMBIE-Berichts in nature: „Der antarktische Eisschild ist wichtiger Klimawandel-Indikator und Treiber des Meeresspiegelanstiegs. Hier kombinieren wir Satellitenbeobachtungen seiner sich ändernden Volumen-, Strömungs- und Anziehungskraft mit der Modellierung seiner Oberflächenmassenbilanz, um zu zeigen, dass der Schild zwischen 1992 und 2017 2.720 ± 1.390 Milliarden Tonnen Eis verloren hat, was einem Anstieg des mittleren Meeresspiegels von 7,6 ± 3,9 mm entspricht (Fehler sind Standardabweichungen). In diesem Zeitraum hat das durch Erwärmung des Meerwassers verursachte Schmelzen zu einem Anstieg der Eisverluste in der Westantarktis von 53 ± 29 auf 159 ± 26 Mrd. t/a geführt; der Zusammenbruch des Schelfeises hat den Eisverlust auf der Antarktischen Halbinsel von 7 ± 13 auf 33 ± 16 Mrd. t/a beschleunigt. Wir stellen große Schwankungen in und zwischen den Modellschätzungen der Oberflächenmassenbilanz und der glazialen isostatischen Anpassung für die Ostantarktis fest, wobei der durchschnittliche Massenzuwachs im Zeitraum 1992-2017 (5 ± 46 Mrd. t/a ) am wenigsten sicher ist.

Die Vergleichsstudie bilanziert die Massenverluste mit bisher unerreichter Genauigkeit. Leitautoren des IMBIE-Gutachtens (und Leiter des IMBIE-Projekts) sind Prof. Andrew Shepherd (University of Leeds, Großbritannien) und Erik Ivins (NASA’s Jet Propulsion Laboratory in California, USA), mit Unterstützung der Europäischen Weltraumbehörde ESA und der NASA. „Laut unseren Analysen ist es in den letzten zehn Jahren zu einer Beschleunigung des Massenverlustes in der Antarktis gekommen“, sagt Andrew Shepherd.

Der Beitrag des Kontinents zum Meeresspiegel war in den vergangenen 25 Jahren nie so hoch wie heute. „Es muss den Regierungen, denen wir vertrauen, ein Anliegen sein, unsere Küstenstädte und -gemeinden zu schützen“, so Shepherd weiter. Aus Deutschland waren unter anderem Alexander Horvath von der Technischen Universität München und der Klimawissenschaftler Ingo Sasgen sowie der Glaziologe Veit Helm vom Alfred-Wegener-Institut Bremerhaven beteiligt.

„Wir haben Beiträge zur Landhebung und Eishöhenänderung in der Antarktis geleistet“, berichtet Sasgen. Eine von drei der Nature-Publikation zugrundeliegenden Methoden ist die Eismassenbilanzierung auf Basis der Erdanziehung (Satellitengravimetrie). „Die Landhebung entsteht durch den Rückgang des Eises seit der letzten Eiszeit. Das geringere Gewicht des Eisschildes führt zeitverzögert zu einer Landhebung und Massenänderung im Erdinnern, die wir herausrechnen müssen“, erklärt Ingo Sasgen seinen Beitrag, der beispielsweise auf Daten der GRACE-Satelliten basiert, die 15 Jahre lang das Schwerefeld der Erde vermessen haben. Eine weitere Methode, die in der Vergleichsstudie Anwendung fand, ist die direkte Messung der Höhenänderung mit Hilfe von Radarwellen, die Satellitenaltimetrie. Diese Daten wurden unter anderem von Helm ausgewertet. Sie reichen bis  in die frühen neunziger Jahre zurück und bilden eine lückenlosen Zeitreihe, die derzeit vom ESA-Satelliten CryoSat-2 fortgeführt wird. „Die Intercomparison Group liefert mit der Publikation und weiteren zugrundeliegenden Technical Reports einen wichtigen Beitrag, um den Meeresspiegelanstieg zu beobachten und Prognosen zu erstellen, auf welche Szenarien wir uns zukünftig einstellen müssen“, so Helm. Weitere Daten kamen von Satelliten, die den Eispanzer aus dem Orbit überwachen, darunter der europäische Cryosat-2.

Der Eisverlust in den letzten fünf Jahren setzt sich zusammen aus einem beschleunigten Abfluss von Gletschern in der Westantarktis und auf der Antarktischen Halbinsel sowie einem geringeren Schneefall in der Ostantarktis. Dabei veränderte sich die Bilanz in der Westantarktis am stärksten: Verlor die Region in den 1990er Jahren 53 Milliarden Tonnen, so stieg die jährliche Abnahme in den Jahren seit 2012 auf 159 Milliarden Tonnen an. An der Nordspitze des Kontinents hat der Zusammenbruch eines großen Eisschelfs an der Antarktischen Halbinsel seit Anfang der 2000er Jahre zu einem Anstieg des Eisverlustes um 25 Milliarden Tonnen pro Jahr geführt. Der Eisschild in der Ostantarktis wächst durch erhöhten Schneezutrag derzeit im langjährigen Mittel leicht. Der jährliche Zuwachs von fünf Milliarden Tonnen in den letzten 25 Jahren kann den Massenverlust in der Westantarktis jedoch nicht ausgleichen.

Für die Studie wurden unter anderen Daten folgender Satellitenmissionen genutzt:

  • ENVISAT und CryoSat-2 der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA
  • Japan Aerospace Exploration Agency Advanced Land Observatory System
  • RADARSAT-1 und RADARSAT-2 der Canadian Space Agency
  • NASA Ice, Cloud, and land Elevation Satellite
  • GRACE (NASA / German Aerospace Center Gravity Recovery and Climate Experiment)
  • COSMO-SkyMed der Italian Space Agency
  • TerraSAR-X des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR)

->Quellen: