„Die falsche Furcht“

30 Jahre Klimadebatte

Unter diesen Überschriften entwickelte SPIEGEL-Kolumnist am 01.07.2018 eine interessante These: Als vor ziemlich genau 30 Jahren das Thema Klimawandel die politische Weltbühne erreicht habe, sei etwas Fatales geschehen: „Die Erderwärmung wurde zum linken Thema erklärt. Rechte fürchten sich lieber vor etwas anderem.“

Am 23.07.1988 sprach der Klimawissenschaftler James E. Hansen (damals noch Direktor des Goddard Institute for Space Studies der NASA und Professor für Erd- und Umweltwissenschaften an der Columbia University) in Washington vor dem Energy and Natural Resources-Ausschuss des US-Senats. Tim Wirth, einladender Senator, habe für die Sitzung absichtlich einen der heißesten Tage des Jahres ausgesucht und dazu noch die Klimaanlage ausschalten lassen. Entsprechend seien die Ausschussmitglieder ins Schwitzen gekommen.

Kapitol Washington – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Hansen habe die Zuhörer im heißen Sitzungssaal auf dem Kapitol mit der Aussage überrascht und schockiert, er sei zu 99 Prozent sicher, dass die Erdatmosphäre sich erwärme. 1988 sei das heißeste Jahr in der Geschichte der Aufzeichnungen. Kohlendioxid „verändert schon jetzt unser Klima“. Seitdem gab es eine ganze Reihe wärmster Jahre. Aber ab dato war Hansen Hassobjekt der gerade auf die Bühne tretenden Klimawandel-Skeptiker; sie versuchten schon früh, ihn mit verzerrten, teils glatt gefälschten Zitaten und Wiedergaben ins Zwielicht zu rücken – noch heute glauben viele Amerikaner völlig realitätsfremd, die Wissenschaft sei uneins über Treibhauseffekt und Klimawandel. Stöcker zufolge ist es sogar schlimmer geworden: Laut Washington Post wolle die überwältigende Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten „bis heute nicht so recht glauben, dass wir Menschen mit unseren Emissionen schuld an der Erwärmung sind – ja manche bestreiten sogar, dass die Erwärmung überhaupt existiert“. Doch Hansen hatte einfach Recht.

Mit seinem Auftritt sei der Klimawandel in der Öffentlichkeit angekommen, so Stöcker: „‚Washington Post‘ und ‚„New York Times‘ erklärten ihren Lesern am folgenden Tag, was es mit diesem sogenannten Treibhauseffekt auf sich habe“. Und hier beginnt Stöckers These: Das Menschheitsproblem Klimawandel sei „nach Hansens Warnruf zu einem politisch verortbaren Thema unter vielen gemacht“ worden. Den Temperaturanstieg als Bedrohung zu betrachten, sei „irgendwie ‚links'“ gewesen. Stöcker: „Ein weiterer Spleen dieser verrückten Umweltschützer, denen die Natur wichtiger ist als die Menschen.“

Stöcker hält nun das politische Klima in den USA, massiv und mit viel Geld beeinflusst von superreichen Polit-Manipulatoren wie den Koch-Brüdern und den Ölkonzernen, für eine Seite des Problems: „Das andere, womöglich langfristig noch gravierendere: Es fällt uns Menschen in der Regel sehr schwer, allzu weit in die Zukunft zu planen. Die katastrophalen Auswirkungen eines ausgeprägten Temperaturanstiegs liegen weit genug in der Zukunft, dass man sie noch allzu leicht ignorieren kann. Warum sich heute einschränken, um der nächsten, womöglich der übernächsten Generation eine lebenswerte Umwelt zu erhalten?“ (Solarify hatte darüber vor kurzem unter dem Titel „Warum schauen wir dem “Meteoriteneinschlag in Zeitlupe” gebannt zu?“ einen Text: „Viele denken beim Gürtel-enger-schnallen spontan an den Leibriemen des Nachbarn, nicht an den eigenen – das gilt auch fürs Klima. Immer wieder wird gefragt, warum wir den Klimawandel zwar einsehen und auch fürchten, aber gleichzeitig so gut wie nichts dagegen unternehmen.“ Siehe: solarify.eu/klimawandel-einsicht-ist-nicht-gleich-handeln)

Stöcker sieht nun zwei andere, in Wahrheit mindestens ebenso langfristige Themen, die politisch offenbar leichter auszuschlachten seien: Migration und Bevölkerungsentwicklung. Die diesen Themen in den USA und Europa momentan gewidmete Aufmerksamkeit sei unverhältnismäßig groß: „Es ist offenbar einfacher, Menschen mit dem Bild vom bösen Ausländer, der einem Arbeit, Lebensraum und Kultur wegnehmen will, der einen mit Terror bedroht, zu emotionalisieren, als mit der leider sehr realen Bedrohung, dass substanzielle Teile der bewohnten Welt im Meer versinken könnten.“

Steigen die Meeresspiegel nur um ein paar Zentimeter – und Grönland verliert Hunderte von Gigatonnen Eis im Jahr – versinken Städte wie Singapur oder Hongkong im Meer – ganz abgesehen von den anderen zu erwartenden Folgen des Klimawandels, wie Dürren, Versteppung, Wald- und Buschbränden, Extremwetter, Stürmen – und dadurch letztlich gewaltigen Migrationsbewegungen.

Stöcker: „Die Angst vor dem Fremden lässt sich politisch viel leichter instrumentalisieren als die Angst vor der Bedrohung durch ein farb- und geruchloses Gas. Folgerichtig tun gerade diejenigen Politiker, deren zentrales Thema diese Furcht vor dem Fremden ist, die Rechtspopulisten dies- und jenseits des Atlantiks, gern so, als gäbe es diese andere, sehr reale, globale Gefahr gar nicht.“

Am 17.01.2018 zeigte Solarify anhand eines Textes der Zeit-Autoren Maximilian Probst und Daniel Pelletier (“Fake-News: Krieg gegen die Wahrheit”  – Die Zeit Nr. 51, 2017, dass Rechtspopulisten Fake-News nicht erfunden haben. Bereits seit mehreren Jahrzehnten organisierten Energiekonzerne und konservative Medien Desinformationskampagnen, um Zweifel am menschengemachten Klimawandel zu säen (siehe “Merchants of Doubt” (deutsch: “Die Machiavellis der Wissenschaft” – und solarify.eu/die-machiavellis-der-wissenschaft) von Naomi Oreskes und Erik M. Conway). Die Gegenmittel sind Energiewende, Divestment und Kreislaufwirtschaft.

Der Kognitionspsychologe Christian Stöcker leitet seit Herbst 2016 als Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) den neuen Master-Studiengang „Digitale Kommunikation“. Vorher war er mehr als elf Jahre in der Redaktion von SPIEGEL ONLINE, fünf davon als Leiter des Ressorts Netzwelt. In seiner Kolumne „Der Rationalist“ macht er sich jeweils sonntags Gedanken über Hysterie und Fakten in der deutschen Debatte.
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