Erderhitzung und Demokratie: Die Natur ist in höchster Gefahr, die Demokratie ebenso

Politikversagen grandiosen Ausmaßes – Neoliberale Markthörigkeit hat den Staat geschwächt

Intellektuelle Führung, vorausschauende, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Themensetzung und Meinungsbildung wäre gefragt, auch um zukünftige Handlungsoptionen zu bewahren. Aber weil die Regierung schwache, widersprüchliche und verwirrende Signale aussendet, verhält sich die Wirtschaft rational, wenn sie sich auf Lippenbekenntnisse und kleinste Schritte beschränkt. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität hat großen Anteil am Politikverdruss und dem Erstarken populistischer Parteien. Die Menschen spüren, dass die Dinge aus dem Ruder laufen, die Gesellschaft unfairer wird und die Regierung entweder nicht die Kapazität oder nicht den Willen hat, um die Zukunft positiv zu gestalten. Sie ahnen ein Politikversagen grandiosen Ausmaßes.

In Deutschland sind nach den langen Jahren der Großen Koalition beide Regierungsparteien unter Druck, weil von ihnen, mit satter Mehrheit ausgestattet, mehr Problemlösungskompetenz erwartet wurde. Dass diese schwach ausfiel, beschädigt nicht nur die beiden Parteien, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie.

Die neoliberale Markthörigkeit der letzten Jahrzehnte hat den Staat geschwächt und seine Rolle angesichts der zunehmend global organisierten Wirtschaft zurückgedrängt. In Folge nahm die Unwucht von Vermögen und Einkommen zu. Die reichsten zehn Prozent der Deutschen besitzen 55 Prozent aller Vermögen; die untere Hälfte hingegen ganze drei Prozent.21 Das Einkommen der oberen zehn Prozent ist doppelt so hoch wie jenes der unteren fünfzig Prozent.22 Der Wohlfahrtstaat wird brüchiger, und die öffentlichen Dienstleistungen nehmen ab. Das Vertrauen in die Fairness und Kompetenz des Staates schwindet und bereitet den Boden für populistische Provokateure, samt ihrem Chauvinismus, Egoismus und Primitivismus.

In einer Zeit, in der alles globaler, integrierter und komplexer wird, können vernünftige Demokraten die Diskussionshoheit nicht mit kleinen Schritten zurückgewinnen. Wenn überhaupt, so benötigen sie eine der Problemdimension angemessene Ernsthaftigkeit, Dringlichkeit, Vision und Strategie. Schlüssige Antworten müssen erarbeitet werden, wie Industrie, Landwirtschaft, Arbeit, Städte und Mobilität im kommenden Jahrzehnt neu zu gestalten, wie die Natur zu heilen, die Erderhitzung zu stoppen und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten ist. Klimapolitische Verteilungskämpfe sind zu antizipieren und zu neutralisieren, auch um zu verhindern, dass aus ihnen von rechtsaußen politisches Kapital geschlagen wird. Grenzenloses Wachstum in einer endlichen Welt stellt sich immer deutlicher als eine Lebenslüge heraus. Vierzig Jahre nach der Ermahnung des eben verstorbenen Erhard Eppler muss ernsthaft diskutiert werden, was noch wachsen kann und was nicht. Und was sogar schrumpfen muss.23

Diese Herausforderung wurde von der großkoalitionären Bundesregierung krachend verbockt oder, präziser ausgedrückt, hasenherzig verbummelt. Bei der Vorstellung des Klimaschutzprogramms der Bundesregierung gestand die Kanzlerin ein, dass die selbst gesteckten Klimaschutzziele für 2020 zwar verpasst werden, versprach aber Besserung für 2030 und 2050. Unausgesprochen blieb, dass diese Ziele, selbst wenn sie eingehalten würden, was international bislang nicht der Fall ist, ungenügend sind, um eine Klimakatastrophe abzuwenden.24

Seit 1990, nach dem statistischen Glücksfall der Abwicklung maroder DDR-Industrieanlagen, ist der Primärenergieverbrauch in Deutschland leicht rückläufig, aber der Anteil fossiler Brennstoffe – Mineralöl, Gas und Kohle – liegt auch heute noch bei 79 Prozent. Trotz der massiven Investitionen in Wind- und Solaranlagen, die deren Produktionskapazität vervielfacht haben, steckt ihr Anteil bei 14 Prozent fest.25 Die erneuerbaren Energiequellen haben den Ausstieg aus der Kernenergie aufgefangen, nicht aber fossile Brennstoffe ersetzt. Um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, müsste der Anteil der erneuerbaren Energiequellen in den nächsten beiden Jahrzehnten auf 100 Prozent steigen. Es brauchte 30 Jahre, um 14 Prozent der Energie in Deutschland aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen. Wie sollen weitere 86 Prozent in den nächsten zwanzig geschafft werden? Sicherlich nicht mit dem Klimaschutzgesetz der Bundesregierung.

Heute emittiert Deutschland 9,9 Tonnen CO2 pro Kopf; für 2030 sind 6,5 Tonnen geplant. Das wäre dann noch immer 50 Prozent mehr als der heutige Weltdurchschnitt von 4,8 Tonnen, der bis 2030 auf nicht mehr als 2 Tonnen sinken muss, soll das1,5°-Ziel erreicht werden.26 Die erst ab 2021 eingeführte CO2-Bepreisung ist trotz der Nachbesserungen des Bundesrats absurd niedrig, beginnend mit 25 Euro pro Tonne CO2 und bis 2025 auf 55 Euro ansteigend.27 Sie kann mangels Masse keine Steuerungswirkung entfalten und auch nicht die Ressourcen einbringen, um einen Richtungswechsel zu finanzieren. Kein Wort im Gesetzesentwurf, dass, wie oben erwähnt, der Schaden einer Tonne CO2 laut Umweltbundesamt bei 180 Euro liegt. Auch kommt das Abschaffen klimaschädlicher Subventionen ebenso wenig vor wie Investitionen in den Green Climate Fund des Pariser Abkommens, der Schutz tropischer Urwälder und der biologischen Vielfalt, oder überhaupt die Förderung globaler Initiativen zur Abwendung der Klimakatastrophe.

Keine der 65 Einzelmaßnahmen ist quantifiziert, sodass unklar bleibt, was sie zum Klimaschutz beitragen sollen. Anstatt eine markante Bürgerprämie auszuschütten, finanziert durch einen nennenswerten CO2 Preis (Anmerkung von Solarify – siehe: agentur-zukunft.eu/vollstaendige-dekarbonisierung-budgetorientiert), werden Wohltaten verteilt, nicht zuletzt an die Autoindustrie. Die Anhebung der Pendlerpauschale ist ein doppeltes Eigentor: Erstens ist es ökologisch unsinnig, den Verkehr zu fördern. Zweitens ist es sozial unausgewogen, Besserverdiener, die einen höheren Grenzsteuersatz haben, mehr zu entlasten als Bezieher geringer Einkommen.

Das Klimaschutzgesetz ist eine vertane Chance, die weder den Regierungsparteien, noch dem Klima, noch dem sozialen Ausgleich, noch der Akzeptanz nützt. Als teilweise funktionierende Halblösung vergeudet das Paket kostbare Zeit und Energie. Es erschwert die strategische Neupositionierung der deutschen Wirtschaft, die nun später unter viel schwierigeren Umständen angegangen werden muss. Eine wirkliche Problemlösung wird nach dem im Wortsinne trefflichen Motto „après nous le déluge“ vertagt.

Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht geschehen in den nächsten zehn Jahren tatsächlich technische Wunder, mit denen die deutschen CO2-Emissionen halbiert und bis 2050 auf null gesenkt werden können. Wobei, nachdem Deutschland nur ein Prozent der Weltbevölkerung stellt, das Null-Emissionsziel fairerweise schon 2036 erreicht werden sollte.28 Dies ist die Größenordnung, die eine vernünftige und verantwortliche Politik auf dem Radar behalten muss, will sie nicht auf Zaubertricks bauen. Technische Lösungen fallen nicht vom Himmel, aber sie können durch kluge Politik katalysiert werden.

Die Risiken, Kosten und Zeitvorgaben verschiedener Optionen sollten im demokratischen Diskurs ausgelotet werden, unterstützt von wissenschaftlichem Zuarbeiten und begleitet von einer interessierten Öffentlichkeit. Klar ist: Je systematischer und schneller die unvermeidbare Transformation in Angriff genommen wird, je vorteilhafter ist dies für den Innovations- und Industriestandort Deutschland und je höher sind die Chancen, die Diskussion auf europäischer und globaler Ebene zu beeinflussen. Im Moment geht es aber in die andere Richtung. Der Ausbau der Windenergie stagniert und wie schon in der Solarindustrie vor ein paar Jahren, werden zehntausende Stellen abgebaut. Die Geschäftsbedingungen für Windanlagen werden mit dem Klimagesetz – durch die Vergrößerung des Abstands zu Wohngebieten – sogar noch verschlechtert.

Der erforderliche großflächige Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft ist ein nationales Projekt, kein parteipolitisches. Der Industriestandort Deutschland – der Arbeits- und Aktienmarkt, die Altersvorsorge und das Steuersystem – braucht eine funktionierende Wirtschaft. Lasten müssen fair und gleichmäßig verteilt werden, auch um die Industrie nicht zu verdrängen. Berechtigterweise befürchten Firmen mit hohem Risikoprofil – z.B. in den Bereichen Kohle, Öl, Gas, Verbrennungsmotoren, Plastik, Flugverkehr, Versicherungen – den Rückzug von Investoren, weil ihre Verwundbarkeiten offenbar werden. Der Rahmen muss jetzt gesetzt werden, um Planbarkeit zu gewährleisten, und um das Chaos zu vermeiden, welches sich unweigerlich einstellt, wenn in einer akuten Krisensituation gehandelt werden muss. Der Spielraum, der heute noch existiert, wird rasch kleiner. Die Zeit drängt, weil die Natur nicht verhandelt, keine Kompromisse macht und ein anderes Zeitschema hat als wir Menschen.

  • Kann das vorsichtige Abwiegeln und Zuwarten – das Klimapolitik mehr als notwendiges Übel denn als Chance begreift – überwunden werden? Ebenso die optimistischen Vorurteile, verhängnisvollen Kurzsichtigkeiten, emotionalen Reflexe und prophylaktischen Voreingenommenheiten, ja Täuschungen, die in Demokratien vom Grundsatz her angelegt sind?
  • Wird die jetzige oder nächste Bundesregierung – im Verbund mit anderen – das tun, was Logik, langfristige Nationalinteressen und die Zukunft der Menschheit erfordern?
  • Kann und wird sie aktiv werden, bevor die Probleme zu groß sind?
  • Anders gefragt: Ist der erforderliche Umbau der Wirtschaft Deutschlands, ja der Welt, technisch möglich – und politisch machbar – in der kurzen Zeit, bevor das Klima kippt?

Verneinende Antworten auf diese Fragen würden nicht nur die Natur zum Unguten verändern. Die freiheitliche Demokratie wäre der Kollateralschaden.

Folgt: Anmerkungen