Fraunhofer ISE: Klimaschutzziele in Energieversorgung erreichbar

Vier Szenarien

Die Studie „Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem – Die deutsche Energiewende im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensweisen“ des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE untersucht Entwicklungspfade des deutschen Energiesystems, die zu einer Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen zwischen 95 und 100 Prozent bis 2050 führen. Sie wurde am 13.02.2020 von den beiden ISE-Direktoren Andreas Bett und Hans-Martin Henning in Berlin vorgestellt.

Der Studie zufolge ist es aus technischer und systemischer Sicht möglich, die Klimaschutzziele in der Energieversorgung auf Basis Erneuerbarer Energien zu erreichen. Gesellschaftliches Verhalten erweist sich dabei allerdings als ein maßgeblicher Faktor für den Weg, den die Energiewende durchläuft, und für die Kosten des Systemumbaus.

Für die Studie betrachteten die Wissenschaftler den Verlauf, die technische Machbarkeit und die Kosten der Energiewende im Kontext verschiedener Entwicklungen gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Einstellungen. Dafür berechneten sie vier Haupt-Szenarien:

  • das Szenario Beharrung (starke Widerstände gegen den Einsatz neuer Techniken im Privatbereich),
  • das Szenario Inakzeptanz (starker Widerstand gegen den Ausbau großer Infrastrukturen) und
  • das Szenario Suffizienz (gesellschaftliche Verhaltensänderungen senken den Energieverbrauch deutlich) –
  • diese verglichen sie mit einem Szenario, bei dem die Zielerreichung weder gefördert noch erschwert wird (Szenario Referenz).

Für die Simulation und Optimierung der Szenarien wurde das am Fraunhofer ISE entwickelte Energiesystemmodell REMod (Regenerative Energien-Modell) eingesetzt. „Die stundenscharfe Betrachtung für die nächsten 30 Jahre zeigt, dass trotz eines sehr hohen Anteils fluktuierender Erneuerbarer Energien für die Strombereitstellung in jeder Stunde und in allen Verbrauchssektoren eine sichere Versorgung erreicht werden kann“, erklärt Prof. Hans-Martin Henning, Institutsleiter des Fraunhofer ISE und einer der Autoren der Studie.

Zugleich zeigten die Ergebnisse, dass auf Basis Erneuerbarer Energien hergestellter Strom zur wichtigsten Primärenergie werde, und dass aufgrund der Sektorenkopplung mit einem stark steigenden Strombedarf zu rechnen sei – die Ergebnisse reichten vom 2- bis 2,5-fachen des heutigen Wertes. Die installierte Leistung von Wind- und Photovoltaikanlagen müsse dafür um einen Faktor vier bis sieben im Vergleich zur heute installierten Gesamtleistung ansteigen, erklärt ISE-Chef Henning.

Aufwand und Kosten zur Erreichung der Klimaschutzziele variieren erheblich

Aufwand und Kosten zur Erreichung der deutschen Klimaschutzziele hingen maßgeblich von den Rahmenbedingungen ab, die von Verhalten und Einstellungen der Gesellschaft geprägt würden. So sei bei einem sparsameren Umgang mit Energie (Szenario Suffizienz) die notwendige Anzahl an Anlagen zur Wandlung, Speicherung, Verteilung und Nutzung von Energie substanziell niedriger als bei der weiteren Nutzung von Verbrennungstechniken für Wärmeversorgung und Mobilität (Szenario Beharrung), die zu deutlich höheren Ausbauraten für Erneuerbare Energien und größeren Importmengen synthetischer chemischer Energieträger führe. Dies verteuere zugleich den Umbau des Energiesystems erheblich.

Der Widerstand gegen Windenergieanlagen und Netzausbau im Szenario Inakzeptanz lasse sich teilweise durch einen modifizierten Ausbaupfad mit einem stärkeren Zuwachs an PV-Anlagen und einer größeren Kapazität an Batteriespeichern kompensieren. Die Nettomehraufwendungen der untersuchten Szenarien über die nächsten dreißig Jahre im Vergleich mit einem Business-as-usual-Szenario lägen zwischen 440 Mrd. Euro für das Szenario Suffizienz und 2330 Mrd. Euro für das Szenario Beharrung. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands 2019 entspricht dies Werten von 0,4 Prozent (Szenario Suffizienz) über rund 1,5 Prozent (Szenarien Referenz und Inakzeptanz) bis hin zu rund 2 Prozent (Szenario Beharrung).

Der Großteil der Mehraufwendungen (je nach Szenario zwischen 63 und 75 Prozent) falle dabei für Investitionen an, so dass nach Abschluss des Systemumbaus im Jahr 2050 diese Kosten erheblich sinken würden. Eine wesentliche Voraussetzung für ein kostengünstiges Erreichen der Klimaschutzziele sei eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Markteinführung sämtlicher Technologien zur Wandlung, Speicherung, Verteilung, Nutzung und zur Systemintegration Erneuerbarer Energien.

„Trotz der Berücksichtigung der Importmöglichkeit Erneuerbaren Stroms und erneuerbar hergestellter stofflicher Energieträger in unseren Untersuchungen erweist sich auch der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur sowie die Nutzung von thermischen und elektrischen Speichern in Deutschland im Kontext der Entwicklung des Gesamtsystems als sinnvoll“, so Studienautor Christoph Kost, Gruppenleiter Energiesysteme und Energiewirtschaft am Fraunhofer ISE.

Szenarien für eine vollständige Reduktion der CO2-Emissionen

Ergänzend wurden zwei Szenarien betrachtet, die eine Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen um 100 Prozent bis 2050 bezogen auf den Wert von 1990 vorsehen:

  • Das Szenario Referenz100 übernimmt die wesentlichen Trends aus dem Szenario Referenz und verstärkt sie, um die verbliebenen fossilen Energieträger zu verdrängen. Die Nettomehraufwendungen liegen hier in ähnlicher Größenordnung wie für das Szenario Beharrung.
  • Das Szenario Suffizienz2035 übernimmt die Annahmen zum Verbrauchsrückgang des Szenarios Suffizienz, sieht aber eine vollständige Reduktion der CO2-Emissionen bereits bis 2035 vor. Die Nettomehraufwendungen liegen mit 3330 Mrd. Euro mehr als doppelt so hoch als im Szenario Referenz und deuten darauf hin, dass eine vollständige Reduktion energiebedingter CO2– Emissionen bis 2035 auch aus Kostensicht sehr aufwändig ist. Größter Kostenblock in diesem Szenario ist die große Importmenge synthetischer Energieträger, die auf dem Weg bis 2050 notwendig ist, um alle Nachfragesektoren frühzeitig vollständig klimaneutral zu versorgen.

CO2-Vermeidungskosten

Die Modellergebnisse ermöglichten es, so die ISE-Wissenschaftler weiter, die zeitliche Entwicklung von CO2-Vermeidungskosten über die nächsten drei Jahrzehnte zu errechnen – also Kosten, die auf die Emission von CO2 erhoben werden müssten, um die Mehraufwendungen der Klimaschutzszenarien gegenüber einer Business-as-usual-Entwicklung zu kompensieren.

Für das Referenz-Szenario liegen die CO2-Vermeidungskosten im Mittel bei rund 150 €/t CO2 und steigen von rund 50 €/t im Zeitraum 2021-2030 über 142 €/t in den Jahren 2031-2040 auf knapp über 180 €/t im Zeitraum 2041-2050 an. Die mittleren Werte über den Gesamtzeitraum liegen beim Suffizienz-Szenario mit 50 €/t CO2 deutlich niedriger und mit mehr als 230 €/t beim Festhalten an heute verwendeten Techniken (Szenario Beharrung) am höchsten.

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