Karlsruher Klima-Urteil interpretiert

Vier Aspekte der Entscheidung des Gerichts sind Meilensteine im Verfassungsrecht – von Franz Baumann

Es heißt, dass für einen erfolgreichen Kampf gegen die Erderwärmung viele unwahrscheinliche Dinge richtig laufen müssen. Damit er scheitert, müssen viele wahrscheinliche Dinge schief gehen. Unwahrscheinlich richtig lief, dass das Bundesverfassungsgericht die Klage mehrerer Klimaaktivisten als zulässig akzeptierte, das vom Bundestag im November 2019 mit großer Mehrheit verabschiedete Klimaschutzgesetz verstoße gegen zentrale Bestimmungen des Grundgesetzes. Noch unwahrscheinlicher war das Urteil vom 29.04.2021, das Teile des Gesetzes für verfassungswidrig erklärte. Franz Baumann, Gast-Professor an der New York University und Ex-UN-Generalsekretär, hat das Urteil am 25.05.2021 auf PassBlue interpretiert. PassBlue ist eine gemeinnützige, unabhängige Medienseite, die über die Beziehungen zwischen den USA und den Vereinten Nationen, über Frauenthemen, Menschenrechte, Friedenssicherung und andere dringende globale Angelegenheiten berichtet.

Die Argumentation des Gerichts hat Auswirkungen weit über Deutschland oder Europa hinaus. Es hat dem Pariser Abkommen Nachdruck verliehen, indem es die deutsche Regierung verpflichtet, detailliert darzulegen, was sie tun wird, um Deutschland klimaneutral zu machen, wie sie es tun wird und bis wann. Vier Aspekte der Entscheidung des Gerichts sind Meilensteine im Verfassungsrecht.

Ein oberstes deutsches Gericht verschärft die nationalen Klimaziele und fordert explizite Details

Im September 2016 hat der Deutsche Bundestag einstimmig das Pariser Abkommen verabschiedet. Die Regierung setzte daraufhin die Verpflichtungen Deutschlands aus dem Abkommen in ein Klimaschutzgesetz um, das im November 2019 vom Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde und Deutschland zum ersten Land der Welt mit einem Plan zur Treibhausgasneutralität machte. Bis 2030 sollten die Kohlenstoffemissionen um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 gesenkt und bis 2050 ein Zustand ohne Treibhausgasemissionen erreicht werden.

Doch im April dieses Jahres verwarf das höchste Gericht des Landes einstimmig – und in erstaunlicher Weise – wesentliche Teile des Gesetzes als verfassungswidrig. Die Argumentation des Gerichts hat Auswirkungen weit über Deutschland und Europa hinaus. Kritiker argumentieren zu Recht, die Vereinbarungen der Vereinten Nationen seien nicht durchsetzbar: eher schwer fassbare Absichtserklärungen als präzise Reisepläne. Der Bundesgerichtshof hat dem Pariser Abkommen nun Nachdruck verliehen, indem er von der Regierung verlangt, detailliert darzulegen, wie und wann sie Deutschland klimaneutral stellen will. In einem ungewöhnlichen Fall von positiver Rechtsprechung entschied es auch, dass die wirtschaftliche Last von jetzt bis 2050 gerecht verteilt werden muss.

Vier Aspekte der Entscheidung des Gerichts stellen Meilensteine im Verfassungsrecht dar:

  1. Erstens akzeptierte das Gericht das Konstrukt eines Klimabudgets, wie es der UN-Weltklimarat (IPCC) formuliert hat: „Die Begrenzung der globalen Erwärmung erfordert … innerhalb eines Gesamt-CO2-Budgets zu bleiben.“ Daraus leitete das Gericht ab, dass jedem Menschen der gleiche Anteil an der CO2-Menge zusteht, die noch emittiert werden darf, wenn die Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius gehalten werden soll, und dass diese verbleibende Menge unter allen Bewohnern der Erde gerecht aufgeteilt werden muss, auch zwischen heutigen und künftigen Generationen.
    Diese eklatante internationale und generationenübergreifende Gerechtigkeitsfeststellung verlangt von der Bundesregierung, bis spätestens 2022 deutlich ehrgeizigere Klimaziele, messbare Maßstäbe und präzise Zeitvorgaben zu entwickeln. Das Gericht sagt das nicht wörtlich, aber eine solche Planung wird davon profitieren, wie sich die Industrie innerhalb klarer Leitplanken anpasst. Implizit stellt sich das Gericht auf die Seite derjenigen Klimaaktivisten, die das Pariser Abkommen nur als Ausgangspunkt betrachten, und definiert als verfassungsrechtlich geforderten Mindeststandard die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C statt des moderateren Ziels von „deutlich unter 2°C“.
  2. Zweitens definierte das Gericht den verfassungsrechtlichen Grundsatz der „Freiheit“ neu. Es erkannte an, dass sowohl die globale Erwärmung als auch der Klimaschutz die individuellen Rechte einschränken, deren Ausübung – einkaufen, fliegen, Auto fahren, im Internet surfen, Fleisch und Käse essen, in großzügigen Räumen wohnen – CO2 ausstößt und damit die Menge reduziert, die zukünftige Generationen ausstoßen können. Der Freiheitsraum künftiger Generationen wird stärker eingeschränkt, als wenn der heutige Konsum weniger verschwenderisch wäre. Bei Abwägung der unvermeidlichen Kompromisse stellte das Gericht fest, dass die größere Bedrohung der Freiheit nicht von einer radikalen Klimapolitik, sondern von der globalen Erwärmung ausgeht.
    Die gegenwärtige Generation greift in die Rechte zukünftiger Generationen ein, indem sie jetzt zu viele Treibhausgasemissionen verursacht, während sie die Verpflichtung zur Reduktion auf die Zukunft verschiebt. Die trivialen Vorteile von halbherzigen Minderungsmaßnahmen für die heutige Generation bedeuten untragbare Verluste für künftige Generationen. Und da das Klimabudget keine Ansichtssache, sondern eine physikalisch-mathematische Angelegenheit ist, verlangt das Gericht, für eine gerechte Verteilung der Lasten zu sorgen. Die Generationengerechtigkeit wird rechtlich durchgesetzt, zumal künftige Generationen nicht nur eine kannibalisierte Natur, sondern auch die enorm gestiegenen finanziellen Lasten des Klimaschutzes und der Klimaanpassung zu schultern haben werden.
  3. Drittens, um dem Argument zuvorzukommen, dass sich die Wissenschaft immer noch weiterentwickelt, verlangt das Gericht, dass die Politik auf den besten derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert und angepasst wird, wenn mehr Fakten verfügbar werden. Die Regierung muss die Autorität der Wissenschaft akzeptieren. Sie darf nicht den Fehler begehen, zu wenig zu tun oder auf einen technologischen deus ex machina zu hoffen, der den Tag rettet. John Kerry, der Klimabeauftragte der Vereinigten Staaten, meinte in einem Interview mit der BBC am 16. Mai, dass 50 Prozent der Kohlenstoffreduzierungen, die notwendig sind, um netto null zu erreichen, von Technologien kommen werden, die noch nicht erfunden wurden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht würde ein solch erstaunliches – eigentlich leichtsinniges – Eingeständnis missbilligen.
  4. Viertens betonte das Gericht die dreifache Verpflichtung der deutschen Regierung, ihren fairen Anteil an der Abschwächung der globalen Erwärmung durch die Reduzierung der nationalen Emissionen beizutragen, finanzielle oder technologische Transfers zu leisten, die die Reduzierung der Emissionen an anderer Stelle als Ausgleich für ihre verbleibende, nicht erfüllte Verantwortung ermöglichen, und ihre Außenpolitik bei der Verfolgung globaler Lösungen für ein globales Problem einzusetzen.
    Das Gericht entschied kategorisch, dass die Faulheit einiger Länder die Minderleistung anderer nicht rechtfertige. Auch wenn Deutschland nur ein Prozent der Weltbevölkerung und zwei Prozent der derzeitigen globalen Treibhausgasemissionen ausmache, müsse es sein Gewicht in die Waagschale werfen, und da die globale Erwärmung eine internationale Herausforderung für die öffentliche Ordnung sei, müsse Deutschland die Emissionsreduzierung zu einer außenpolitischen Priorität machen. Fairness, ob national oder international, sei entscheidend. Das gelte auch umgekehrt: Ungerechte wirtschaftliche Verhältnisse müssten unabhängig von der Erderwärmung angegangen werden.

Die Arbeit an der globalen Erwärmung ist keine Tätigkeit, die zu Optimismus ermutigt, aber die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts ist ein wichtiges Zeichen, dass sich die Grundlage endlich verändert. Eine andere eher konservative Institution, die Internationale Energieagentur, platzierte kürzlich die zweite umweltpolitische Weckruf-Bombe. Ihr Mitte Mai veröffentlichter Leitbericht stellt fest, dass sich die Rate der Energieeffizienzverbesserungen im Vergleich zu den letzten zwei Jahrzehnten verdreifachen muss und dass die Emissionsreduktions-Versprechen der meisten Länder „noch nicht durch kurzfristige Politiken und Maßnahmen untermauert sind.“

Die Agentur warnt, dass der Weg zur Netto-Null-Emission zwar erreichbar, aber schmal ist. Das höchste deutsche Gericht hat entschieden, dass die Regierung verfassungsmäßig verpflichtet ist, ihn einzuschlagen.

Franz Baumann – ist Gastforschungsprofessor an der New York University. Er begann seine Karriere beim Europäischen Parlament in Luxemburg, bevor er zur Europäischen Kommission in Brüssel wechselte, zu Siemens in München und 1980 zu den Vereinten Nationen, wo er in vier Städten auf drei Kontinenten in verschiedenen Funktionen tätig war. Zuletzt war er Sonderberater für Umwelt und Friedenseinsätze im Rang eines stellvertretenden Generalsekretärs. Baumann hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft (Afrikastudien) von der Carleton University in Ottawa, Kanada.

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